Auf den letzten Drücker: Das neue Sexualstrafrecht gilt – und der Kanton Aargau ist noch mitten in der Umsetzung
Seit dem 1. Juli gilt das neue Sexualstrafrecht. Ein Jahr hatte der Bund den Kantonen Zeit gegeben, die Gesetzesänderungen umzusetzen. Nun gilt beim Sex neu der Grundsatz: «Nein heisst Nein.» Das ändert an der Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft einiges.
Es gibt Kantone, die auf die Einführung des neuen Sexualstrafrechts ungenügend vorbereitet seien, berichteten Medien im Juni – nur einen Monat bevor das neue Sexualstrafrecht in Kraft trat. Als Negativbeispiel wird der Kanton Aargau genannt. «Das hat uns aufgeschreckt», sagt Mia Jenni. Die SP-Grossrätin reichte daraufhin zusammen mit Partei- und Grossratskollegin Lelia Hunziker zwei Vorstösse ein.
«Es ist zu erwarten, dass die Beweisführung aufwendiger wird»
Darin fragten sie den Regierungsrat, wie weit die Polizei und die Staatsanwaltschaft in der Umsetzung der Gesetzesrevision sind. Die Antworten des Regierungsrates zeigen: Der Kanton ist aktiv, doch für dieses Jahr fehlen der Staatsanwaltschaft finanzielle Ressourcen.
In Bezug auf die Arbeit der Staatsanwaltschaft schreibt die Regierung: «Es ist zu erwarten, dass die Beweisführung in diesem Themenbereich aufwendiger wird.» Ob die Anzahl Strafverfahren zunehmen werde, sei noch nicht abschätzbar. Es sei aber zu erwarten, dass der Aufwand zunehmen könnte.
Für Jenni sind die Antworten des Regierungsrates nicht überraschend: «Dass die Ressourcen knapp kalkuliert waren, war uns klar.» Auffällig seien für sie vor allem die Lücken gewesen, welche einige Antworten des Regierungsrates offenliessen.
Vergewaltigung: Tatbestand ist erweitert
Mit dem neuen Sexualstrafrecht wurde die Definition der Vergewaltigung ausgedehnt. Eine Vergewaltigung ist neu: Wenn der Täter oder die Täterin gegen den Willen des Opfers eine sexuelle Handlung vornimmt, obwohl das Opfer ihm oder ihr durch Worte oder Gesten gezeigt hat, dass es mit der sexuellen Handlung nicht einverstanden ist.
Eine Vergewaltigung umfasst neu nicht nur Geschlechtsverkehr, sondern jegliche Handlungen, die mit dem Eindringen in den Körper verbunden sind. Der Tatbestand Nötigung ist keine Voraussetzung mehr für eine Vergewaltigung.
Aufwendiger wird die Arbeit der Staatsanwaltschaft deshalb, weil sie neu klären müsse, ob der Tatbestand «gegen den Willen» zutreffe. Dies mache in der Regel eingehendere Abklärungen und Befragungen nötig, wie der Regierungsrat schreibt.
Auffällige Lücken
Um die Gesetzesänderung umzusetzen, hat der Regierungsrat die Arbeitsgruppe «Revision Sexualstrafrecht» gegründet. Sie setzt sich aus Mitarbeitenden der Kantonspolizei und der Staatsanwaltschaft zusammen.
«Dass die Kantonspolizei und die Staatsanwaltschaft eine gemeinsame Praxis entwickeln, ist grundsätzlich sehr sinnvoll», sagt Jenni. Doch was genau die Aufgaben dieser Gruppe seien, schreibe der Kanton nicht. «Dazu hätten wir gerne eine ausführlichere Antwort erhalten.» Gehe es bei der Gruppe lediglich darum, das Gesetz umzusetzen, sei das ungenügend.
Grundsätzlich stört Jenni, dass der Kanton keine Hinweise liefere, wie er die Umsetzung der Gesetzesänderung längerfristig sicherstellen möchte, beispielsweise durch ein Monitoring. «Ohne ein solches scheinen die Massnahmen zu kurzsichtig.»
Der Kanton hat Anfang Juni zudem sämtliche Mitarbeitende der Kantonspolizei und der Staatsanwaltschaft verpflichtet, ein E-Learning-Programm zum neuen Sexualstrafrecht zu absolvieren. Auch dies wertet Jenni als gutes Zeichen. Dennoch stelle sich die Frage, weshalb diese Schulungen erst im Juni auf den letzten Drücker hin durchgeführt worden seien. Schliesslich war das Gesetz im Juni 2023 beschlossen worden.
Ohne Fachstelle keine Entwicklung
Ein Manko bei der Umsetzung des neuen Sexualstrafrechts sei für den Aargau auch, dass im Kanton eine Fachstelle für Gleichstellung fehle – auch wenn diese nur indirekt beteiligt wäre. Diesehatte der Kanton 2017 gestrichen.
Mithilfe einer Fachstelle wäre es möglich, ohne grosse Recherche über vorhandenes und fehlendes Angebot informiert zu sein. Beispielsweise fehlten im Kanton Anlaufstellen für Betroffene sexualisierter Gewalt, sagt Jenni und ergänzt: «Der Kanton Aargau kann sich in der Gleichstellung nicht entwickeln ohne Fachstelle.» Beobachtet in der kantonalen Verwaltung niemand Gleichstellungsthemen, fehle schlicht das Bewusstsein für bestehende Probleme.