Christoph Blocher plant eine Volksinitiative für die «integrale Neutralität» – laut Umfragen politisiert er damit am Volk vorbei
Sie ist in der Verfassung verankert, gehört zur DNA des helvetischen Staatswesens und ist so unumstritten wie kaum eine andere politische Maxime der Schweiz: 96 Prozent der Stimmbevölkerung stellen sich gemäss der Umfrage «Sicherheit 2021» der ETH Zürich hinter die Neutralität.
Weniger deutlich präsentiert sich das Bild bei der politischen Umsetzung der Neutralität. Eine Mehrheit von 57 Prozent befürwortet die «differenzielle» Neutralität. Was heisst das? Vor dem Ersten Weltkrieg, während und nach dem Zweiten Weltkrieg praktizierte die Schweiz die «integrale Neutralität»: keine Teilnahme an bewaffneten Konflikten, aber auch keine Beteiligung an Wirtschaftssanktionen gegen Kriegsparteien. Man führte Handel im bisherigen Umfang («courant normal») weiter.
Differenzielle Neutralität bedeutet: Man positioniert sich politisch und schliesst sich Wirtschaftssanktionen an. Die Schweiz übernahm 1990 die UNO-Sanktionen gegen den Irak, obwohl sie damals nicht UNO-Mitglied war.
Der Bundesrat schwenkte auf die «differenzielle Neutralität» um, ohne aber diesen Begriff in der öffentlichen Kommunikation zu verwenden. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hat der Bundesrat nach einigen Tagen des Zögerns die EU-Sanktionen übernommen – ein Entscheid für die differenzielle Neutralität.
Blocher will überparteiliches Komitee bilden
Alt Bundesrat und SVP-Doyen Christoph Blocher taxiert dies als groben Fehler. Wer bei den EU-Sanktionen mitmache, sei Kriegspartei, sagte er in einem Interview mit der NZZ. Blocher plant deshalb eine Volksinitiative, mit der er die dauernde, bewaffnete und integrale Neutralität in die Verfassung schreiben will. Er sei dabei, ein überparteiliches Komitee zu bilden, sagte er gegenüber CH Media. Mit im Boot rudern dürfte die Auns, die voraussichtlich bald Teil der neuen Organisationen «PSS – Pro Souveräne Schweiz» wird.
Die Auns liebäugelte schon vor einigen Jahren mit einer Neutralitätsinitiative – unter anderem, weil das Aussendepartement die Neutralität nicht als grundsätzliches Hindernis zur Teilnahme an wirtschaftlichen Sanktionen von internationalen Organisationen betrachtete.
Gemäss Blocher beschwichtigte der Bundesrat in Vorgesprächen zur Initiative, er halte an der integralen Neutralität fest; das Projekt wurde schubladisiert. Blocher erinnert daran, die Schweiz habe sich nach der Annexion der Krim durch Russland nicht an den Wirtschaftssanktionen beteiligt, sondern lediglich dafür gesorgt, nicht als Umgehungsplattform zu dienen.
Nimmt man aktuelle Umfragen zum Massstab, steht Blocher mit der Neutralitätsinitiative auf verlorenem Posten. Die Mehrheit der Bevölkerung bevorzugt die differenzielle Neutralität und begrüsst die Teilnahme an den EU-Sanktionen. Von der Meinungsforschung lässt sich Blocher indes nicht beirren.
«Es hat noch keine vertiefte Auseinandersetzung über das Wesen der schweizerischen Neutralität stattgefunden.»
Die Menschen hätten zu Recht die Meinung, der russische Angriff auf die Ukraine sei eine «Sauerei». Der Bundesrat dürfe seine Politik jedoch nicht an der öffentlichen Empörung ausrichten, sondern müsse am traditionellen Neutralitätsbegriff festhalten. Solange der Krieg auf die Ukraine beschränkt bleibe, sei die Schweiz nicht unmittelbar bedroht. «Aber wenn die Russen plötzlich in Polen an der Grenze zu Deutschland stehen, ist die Schweiz nicht mehr weit.»
Schon jetzt figuriert die Schweiz auf Russlands Feindesliste. Blocher befürchtet, die Schweiz könnte mit ihrer jetzigen Neutralitätspolitik in den Krieg hineingezogen werden – anstatt sich mit den traditionellen Guten Diensten zu profilieren.