«Null Verständnis für Entscheide»: Bauern kritisieren Beschluss des Bundesrats für ökologischere Landwirtschaft
Keine Pflanzenschutzmittel mehr mit «hohem potenziellen Risiko», finanzielle Anreize für eine ökologischere Landwirtschaft und eine Reduktion der Nährstoffverluste bis 2030 um 20 Prozent: Unter anderem mit diesen Massnahmen in Form von Verordnungsänderungen will der Bundesrat den vom Parlament beschlossenen Absenkpfad Pestizide umsetzen.
Die Kritik liess nach der Veröffentlichung des Bundesratsentscheids vor rund einer Woche nicht lange auf sich warten. Dem Schweizer Bauernverband (SBV) ist vor allem die geplante Umwandlung von 3,5 Prozent der Ackerbauflächen in Biodiversitätsförderflachen ein Dorn im Auge. Für Direktor Martin Rufer ist diese Massnahme insbesondere mit Blick auf eine «angemessene Selbstversorgung», für welche der «Erhalt der Produktionsflächen» zentral sei, «völlig unsinnig». Der Bauernverband habe «null Verständnis für diese Entscheide».
SVP befürchtet stärkere Abhängigkeit vom Ausland
Auch bei der SVP kommt der bundesrätliche Entschluss nicht gut an. Sie zeigt sich in einer Mitteilung empört: «In einer Situation, in der sich ganz Europa Gedanken um die Ernährung der Bevölkerung macht, setzt unser Bundesrat mit seiner falschen Politik noch stärker auf Importe bei Lebensmitteln.» Die Partei befürchtet, dass durch die Massnahmen zur Reduktion des Pestizideinsatzes noch mehr Abhängigkeiten vom Ausland geschaffen würden. Statt «aufzuzeigen, wie die Ernährung der Bevölkerung sichergestellt werden kann», setze der Bundesrat auf ein «gefährliches Experiment».AUCH INTERESSANT
Publizist Lukas Tonetto ist gestorben20.04.2022
An dieser Stelle kommt einmal mehr die Frage auf, ob eine ökologische und gleichzeitig intensive Produktion vereinbar sind. Kann die Schweiz ihren Selbstversorgungsgrad erhöhen und gleichzeitig Nachhaltigkeits- und Biodiversitätsziele erfüllen? Und ist es überhaupt notwendig, die inländische Produktion zu erhöhen oder reicht es, wenn wir alle weniger tierische Produkte konsumieren?WERBUNG
Zur Einordnung: Aktuell kann sich die Schweiz gemäss Angaben des Bundesamts für Landwirtschaft (BLW) zu 57 Prozent selbst versorgen. Werden die Futtermittel, die für die einheimische Nahrungsmittelproduktion importiert werden, abgezogen, beläuft sich der Selbstversorgungsgrad auf 49 Prozent.
Entwicklung des Brutto-Selbstversorgungsgrads seit 1990
Weniger Pestizide: Kleinerer Ertrag im Ackerbau
Das landwirtschaftliche Forschungsinstitut Agroscope hat berechnet, dass der Selbstversorgungsgrad per 2026 um etwa drei Prozent sinkt, wenn die Umsetzung des Absenkpfad Pestizide wie vom Parlament beschlossen erfolgt. Dies, weil die Erträge insbesondere im Ackerbau wegen dem Verzicht auf Pflanzenschutzmittel zurückgehen werden. Im von Agroscope erarbeiteten Szenario zeigt sich, dass die Milchproduktion bis 2026 leicht steigen wird, die Fleischproduktion stabil bleibt und – ausser bei den Kartoffeln – mit «einer rückläufigen Produktion im Ackerbau zu rechnen» ist, sofern die Verordnungen zur Parlamentarischen Initiative wie geplant umgesetzt werden. Würden hingegen keine Massnahmen ergriffen, bliebe der Selbstversorgungsgrad ungefähr konstant.WERBUNG
Für Martin Rufer ist klar:
«Das Mindestziel muss sein, den Selbstversorgungsgrad zu halten. Auch eine Erhöhung auf 60 Prozent ist absolut möglich, ohne dass sich dies negativ auf die Umwelt auswirken würde.»
Es gehöre zur Verantwortung der Schweiz, einen angemessenen Anteil an Lebensmitteln selbst zu produzieren. Zudem sei es nicht korrekt, «wenn sich die Schweiz mit ihrer hohen Kaufkraft einfach mit Lebensmitteln auf den internationalen Märkten eindeckt», während die Versorgung mit Lebensmitteln weltweit immer schwieriger werde.
Weniger Fleisch, höherer Selbstversorgungsgrad
Auch Urs Niggli, der langjährige Leiter des Forschungsinstituts für biologischen Landbau, plädiert dafür, den aktuellen Selbstversorgungsgrad zu halten. Niggli sieht in den vom Bundesrat beschlossenen Massnahmen kein Problem: Ökologisierung und höhere Erträge seien kein Zielkonflikt. «Ich halte es für möglich, dass man nachhaltig intensivieren kann.» Die Wege dazu seien bekannt: Food-Waste vermeiden, weniger Fleisch essen, Biolandbau fördern, neue Technologien einsetzen und bei der Pflanzenzüchtung auch auf neue Methoden wie die Genom-Editierung setzen.
Ähnlich wie der Biopionier Niggli argumentiert auch Bio Suisse: «Wenn wir mehr pflanzliche und weniger tierische Produkte essen und Lebensmittelverschwendung vermeiden, erhöht sich der Selbstversorgungsgrad schnell», schreibt der Verband auf Anfrage. Jede Konsumentin habe die Wahl. So liessen sich beispielsweise auf derselben Fläche Land entweder eine Portion Schweinefleisch produzieren oder aber fünf Portionen Tofu in Bio-Qualität anbauen.
Mehr als die Hälfte der Ackerfläche wird für Futtermittelproduktion genutzt
Tatsache ist: 60 Prozent der Ackerfläche wird in der Schweiz für die Futtermittelproduktion verwendet. Deshalb sieht auch das BLW in einer angepassten Ernährung einen wichtigen Hebel: «Der Selbstversorgungsgrad kann erhöht werden, wenn mehr pflanzliche Kalorien direkt dem menschlichen Konsum zugeführt werden», so Jonathan Fisch, Mediensprecher beim BLW. Das hätte zur Folge, dass sich «das Konsummuster der Bevölkerung entsprechend der Produktion anpassen müsste». Heisst: Mehr Kartoffeln, Getreide und Gemüse, weniger Fleisch, Milchprodukte und Eier.
Ob überhaupt und wenn ja, in welcher Form der Selbstversorgungsgrad in der Schweiz erhöht werden soll, habe der Bund aktuell noch nicht festgelegt, teilt das BLW mit. Der Bundesrat werde im Bericht zur künftigen Ausrichtung der Agrarpolitik unter anderem die Themen Versorgungssicherheit und Selbstversorgungsgrad behandeln. Dazu hat ihn das Parlament beauftragt, nachdem im vergangenen Jahr beide Räte die Agrarpolitik 22+ sistiert haben. Die Debatte soll diesen Sommer mit dem angekündigten Bericht des Bundesrates neu lanciert werden. Das Parlament allerdings nimmt die Beratung über die AP22+ frühestens in einem Jahr wieder auf.