Der letzte seiner Art: Der Spycher trotzt den Bestimmungen des Brandschutzes und dem Verschwinden der Schaubdecker
Beinahe majestätisch erhebt sich das Holzgebäude mit Schilfdach auf einer Wiese im Obersteg. Hausnummer 106. Dass es alt ist, ist unschwer zu erkennen. Aber wie alt genau? Und was ist das überhaupt? Auf der Website der Gemeinde Oberkulm ist mehr zu erfahren.
Dort wird der Spycher als Sehenswürdigkeit angepriesen. Zwischen den Jahren 1540 und 1550 sei er erbaut worden, 1950 wurde er unter Denkmalschutz gestellt. Schweizweit soll er der letzte seiner Art sein, der noch im Original existiert.
Mehr erfährt man dort aber auch nicht. Ein Anruf bei Gemeindeschreiberin Petra Sommer hilft weiter. «Wir haben einige Unterlagen auf der Gemeindekanzlei», berichtet sie auf Nachfrage der AZ. Also nichts wie hin.
Kauf für gerade mal 3695 Franken
«Der Kornspycher wurde im Jahr 1986 von der Ortsbürgergemeinde gekauft», erzählt Sommer. Und zwar von einer Erbengemeinschaft, die wohl nichts mehr damit anzufangen wusste. Heute mutet der Kaufpreis von 3695 Franken beinahe lächerlich an, insgesamt 5000 Franken für Kauf und Unterhalt hatte die Gemeindeversammlung gesprochen.
Im Jahr 2017 wurde ein Betrag von 70’000 Franken für die Sanierung und die Erneuerung des Daches gutgeheissen – was für eine Preisentwicklung. Glücklicherweise beteiligt sich der Kanton bei denkmalgeschützten Gebäuden zu einem Drittel an den Kosten. «Es gibt nur noch ganz wenige Handwerker, die ein Schilfdach decken können», erläutert Sommer. Warum eigentlich Schilf? Das ist nicht gerade ein typischer Baustoff für die Region.
«Ursprünglich bestand das Dach aus Stroh», erklärt die Gemeindeschreiberin und verweist für weitere Auskünfte an Andreas Bergamini aus Lausen, der verantwortlich zeichnete für die Dachdeckerarbeiten. «Schilf ist deutlich länger haltbar als Stroh», erklärt der Fachmann einen wichtigen Grund, warum er das Dach des Spychers mit Schilf gedeckt hat.
Für den Denkmalschutz sei das kein Problem gewesen. «Rein äusserlich ist das kein Unterschied, deswegen gab es auch das Okay vom Kanton», führt Bergamini aus. 35 bis 45 Jahre halte das Schilfdach. Ein Strohdach muss dagegen schon nach 15 bis 20 Jahren erneuert werden. Und noch ein entscheidender Unterschied: «Stroh brennt schneller als Schilf», so Bergamini.
Der Mann kennt sich aus mit dem Baustoff, der im Aargau heute eher ungewöhnlich anmutet. Weit gefehlt: Bereits um 2000 v. Chr. habe es im Aargau Häuser mit Strohdächern gegeben. Das erläutert Bergamini im Sanierungsbericht des Kornspychers. Dies hätte die Erforschung der Totenhäuser der Sarmenstorfer Hügelgräber ergeben.
Prämie vom Grossen Rat ausgesetzt
«Um 1800 gab es im Aargau noch 11’962 Häuser mit Strohdächern», so Bergamini im Sanierungsbericht. Mit der Einführung des Brandversicherungsgesetzes im Jahr 1865 habe der Kanton aber die Eliminierung dieser Gebäude vorangetrieben. Im Jahr 1874 setzte der Grosse Rat sogar eine Prämie für die freiwillige Beseitigung von Strohdächern aus. «Nur ganz wenige wurden gerettet», bedauert Bergamini. Eines davon ist das Strohdachhaus in Muhen.
Und eben auch der Spycher in Oberkulm. Mit dem Verschwinden der Strohdächer verschwand auch nach und nach das Handwerk des Schaubdeckers. So ist Andreas Bergamini einer der ganz wenigen, die dieses Handwerk in der Schweiz noch beherrschen.
Zum Glück. Denn so konnte das Dach des Spychers im Jahr 2018 saniert werden. Eine umfangreiche Erneuerung der Holzbohlen des Spychers im Jahr 2004 hatte ihre Spuren am Dach hinterlassen. Dieses war dabei mit einem Kran vom Gebäude gehoben worden. Sage und schreibe sieben Tonnen Schilf und Bindematerial brauchte Bergamini für die komplette Erneuerung des Daches. Das Schilf wurde überwiegend aus Holland bezogen.
Gut einen Monat waren Bergamini und eine Mitarbeiterin mit dem Eindecken des Daches beschäftigt. Seither steht der Spycher wieder einsam auf der Wiese in Oberkulm und fristet sein Dasein bis zu den nächsten Arbeiten.
Eigentlich würde sich ein solches «Wahrzeichen» doch für einen Anlass wie die 1.-August-Feier oder etwas Ähnliches eignen. «Da gibt es bislang keine Pläne», erklärt Petra Sommer. «Aber vielleicht hat die Kulturkommission mal eine Idee in diese Richtung.»