Alte Obstsorten: «Der Aargau ist ein echter Hotspot»
Sie strahlten, noch bevor der Frost kam: Die Blüten des Gelben Altenburg Brugg. Die regionale Weinbergpfirsichsorte ist die Domäne von Familie Brügger. Und ihre Geschichte klingt wie ein Märchen.
Im Garten der Familie in Altenburg stand dereinst ein Pfirsichbaum. Mit seinen Blüten in dunklem Rosa bezirzte er jeden Frühling nicht nur zahlreiche Hummeln und Bienen, sondern auch die Brüggers, die aus seinen süssen, gelben Früchten Konfitüre, Wähen und Schnaps fabrizierten. Doch eines Tages starb der Baum. «Wie durch ein Wunder zeigte sich ein Nachkomme», erzählt SP-Grossrat und Einwohnerrat Martin Brügger. Er und sein Sohn Silvan, der für die Grünen im Brugger Einwohnerrat sitzt, waren tief beeindruckt und beschlossen, sich fortan für den Erhalt der speziellen Sorte einzusetzen.
Brugger Pfirsiche sind auch im Bündnerland zu finden
Bäumchen um Bäumchen zogen sie auf und verschenkten die Jungpflanzen im Freundes- und Bekanntenkreis. So kam es, dass heute auch im Garten von Frau Stadtammann Barbara Horlacher im Stadtteil Umiken ein Gelber Altenburg Brugg wächst.
Sogar im Berner Oberland, in der Ostschweiz und im Bündnerland sind Nachkommen zu finden. «Die Sorte ist robust und kaum krankheitsanfällig», sagt Martin Brügger. «Und die Blüten sind wunderschön.» Er schneidet die Bäume, die auch auf dem Pflanzplätz im Unterhag bei der Badi Brugg wachsen, und hilft bei der Ernte. Um den Erhalt der speziellen Sorte zu gewährleisten, meldete sie Silvan Brügger bei Pro Specie Rara an. Seither ist sie als «Gelber Altenburg Brugg» im Verzeichnis der Stiftung gelistet.
Wer dort nach weiteren Obstsorten aus der Region Brugg sucht, findet insgesamt acht. Sie haben klingende Namen: Schwarze aus Auenstein, Schwarze aus Birr, Violette von Bözberg, Veltheimer Chlöpfer, Veltheimer Langstieler, Dunkelrote aus Windisch und Brugger Reinette. Letztere zählt zu den bekanntesten regionalen Sorten – und zu den Spezialitäten von Kohler Weine und Destillate Schinznach-Dorf.
Der Familienbetrieb brennt aus den schmackhaften Früchten Schnaps. «Wir haben die Reinette wieder zum Erwecken gebracht», sagt Ruedi Kohler stolz. Schon sein Grossvater habe die Hochstammsorte auf dem Tegerfeld in Schinznach angebaut. Aufgrund ihres Aussehens seien die Früchte als «Zebeleöpfel» bezeichnet worden. Gegessen habe man sie vorwiegend als Schnitze, beispielsweise bei der Metzgete.
Jungbäume tragen erst mit zwanzig Jahren
Noch heute ist Ruedi Kohler, der den Betrieb gemeinsam mit Frau Dora und Sohn Moreno führt, ein Fan der alten Sorte. «Die Hochstammbäume sind widerstandsfähig, sie brauchen viel weniger Pflanzenschutz», sagt er. Den Schnaps aus der Brugger Reinette, der 2007/08 zum Edelbrand des Jahres erkoren wurde, verkauft er auch ans Gastgewerbe. Die Früchte dafür erwirbt er von Privaten aus der Region, den grössten Teil baut er selbst an. Vor zwölf Jahren haben die Kohlers Jungbäume der Sorte gepflanzt. Richtig tragen werden sie erst mit zwanzig Jahren. «In unserem Business muss man für die nächste Generation denken», so Ruedi Kohler.
Der Schinznacher Landwirt erinnert sich, dass seine Vorfahren die jungen Bäume einst von der örtlichen Baumschule Zulauf bezogen haben. Eine Nachfrage bei Johannes Zulauf, Co-Geschäftsführer der Zulauf AG, zeigt: Das ist passé. «Wir vermehren die Brugger Reinette nicht mehr und haben auch keine im Verkauf.» Gefragt seien heutzutage vorwiegend neuere Sorten, das heisst Niederstammzüchtungen aus den 70er- und 80er-Jahren. «Diese wurden bezüglich Geschmack, Ertrag, Lagerfähigkeit und Resistenz optimiert und den heutigen Bedürfnissen angepasst», so Zulauf.
Gelbe Äpfel gehen kaum über den Ladentisch
Ähnlich klingt es beim Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) in Frick. Hier drehe sich die Forschung hauptsächlich um «moderne Sorten», sagt Thierry Suard vom Departement für Nutzpflanzenwissenschaften. «Auch ein biologischer Apfel muss heute den Ansprüchen des Grosshandels gerecht werden und bis in den Juli hinein haltbar sein.» Alte Sorten würden spätestens im Januar mehlig und faul.
Auch das Aussehen mit rauer oder «rostiger» Schale würde von den Konsumentinnen und Konsumenten kaum goutiert – und die Farbe gelb sei bei Äpfeln heutzutage ein No-Go. «Das kaufen die Leute nicht», so der auf Obstbau spezialisierte Agronom. Mit «neutralen» Sorten, die sich durch keinen besonderen Charakter hervortun, fahre man am besten. Einige der alten Sorten haben den Sprung in die Neuzeit laut Suard aber trotzdem geschafft. «Glockenäpfel, Cox Orange und Boskoop sind nach wie vor beliebt.»
Forschung mit alten Sorten betreibt man hingegen am Hub Spezialkulturen der Professur Molekulare Pflanzenzüchtung der ETH Zürich und an der Agroscope in Wädenswil. Hier untersucht man unter anderem die Nutzung der Schweizer Obstgeneressourcen in der Züchtung. Laut Simone Bühlmann, die als stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe Obstzüchtung bei Agroscope arbeitet, sind die genetischen Ressourcen eine wertvolle Quelle für eine grosse Diversität von verschiedenen Merkmalen.
Für die Öffentlichkeit zugänglich gesammelt werden die Forschungsergebnisse im Nationalen Informationssystem zur Erhaltung und nachhaltigen Nutzung pflanzengenetischer Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft. «Es wird aber nicht jeder Sämling aufgenommen», betont Bühlmann. «In die Datenbank kommen nur Sorten mit einzigartigem DNA-Profil und hohem Erhaltungswert.»
Bei der Agroscope angesiedelt ist auch die Vereinigung Fructus, die sich spezifisch um die Förderung alter Obstsorten kümmert. Im Bereich der Pomologie – so der Fachbegriff für Obstsortenkunde – hat sich laut Nele Kemper, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit bei Fructus, in den letzten Jahren vieles getan.
So hat etwa die Möglichkeit der molekularen Sortenbestimmung und die strukturierte internationale Zusammenarbeit viele neue Aufschlüsse über alte Sorten gebracht. Das hat der ein oder anderen lokalen Sorte vielleicht etwas von ihrem Charme genommen. Denn nun ist klar: Sie tritt auch andernorts auf. Andererseits erzählen die gewonnenen Erkenntnisse auch wieder neue spannende Geschichten und geben nicht selten Hinweise für die Zukunft. «Alte Sorten transportieren nicht nur ein Stück Kulturgeschichte, sondern liefern auch einen Genpool an unterschiedlichen Eigenschaften», betont Nele Kemper. «Ob Klimawandel, neue Krankheitserreger oder sich verändernde Anforderungen von Handel und Konsumenten: Durch den Erhalt alter Sorten bleibt der Obstbau biodivers und flexibel.»
Hochstammbäume brauchen speziellen Schnitt
Zu den Primär- und Duplikatssammlungen, die dem Erhalt der DNA dienen, gehört auch der nationale Birnensortengarten von Thomas Winterhofen in Unterbözberg. Angelegt wurde er in Zusammenarbeit mit dem Forum Doracher, Oberzeihen. 624 Bäume wachsen auf seinem Land, jeweils vier pro Sorte. «Der Sortengarten ist meine Passion», sagt Winterhofen, der seine Baumschule vor einigen Jahren geschlossen hat, um sich zu grossen Teilen dem Erhalt alter Obstsorten zu widmen.
Nebst den Birnbäumen unterhält der Baumspezialist auf dem Sindelhof in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Landwirtschaft die Duplikatensammlung Vierlinde, in der 400 verschiedene Obstsorten wachsen. «Ich liebe die Arbeit mit diesen charaktervollen Bäumen», sagt Winterhofen. «Das sind noch richtige Individuen.»
Während sein Sortengarten dem Erhalt dient, widmet sich Toni Suter in Birmenstorf der Aufzucht. Sein Edelreiserschnittgarten mit 600 Sorten ist schweizweit der grösste dieser Art. «Was alte Sorten angeht, ist der Aargau ein richtiger Hotspot», sagt Gertrud Burger, Mitglied der Geschäftsleitung und Bereichsleiterin Pflanzen bei Pro Specie Rara.
Die Stiftung kümmert sich um die kulturhistorische und genetische Vielfalt von Pflanzen und Tieren. Finden sich nur wenige Standorte oder ist eine alte Obstsorte noch nicht in einer Datenbank verzeichnet, versucht Pro Specie Rara mithilfe von Spezialisten wie Toni Suter, die Sorte zu vermehren. «Das ist eine aufwändige Geschichte», sagt Burger, die an ihrem Wohnort Freienwil einen eigenen Sortengarten mit 80 Hochstammbäumen unterhält.
In der Erhaltungsdatenbank von Pro Specie Rara sind aktuell 2436 Obstsorten verzeichnet, davon 993 Apfel- und 14 Pfirsichsorten, darunter der Gelbe Altenburg Brugg. Seine Geschichte ist eine von vielen, die Gertrud Burger erzählen könnte. «Zu erfahren, wie die Sorten hierher kamen, fasziniert mich», sagt sie. «Die Spuren führen weit in die Geschichte zurück und haben nicht selten mit politischen Prozessen zu tun.» Wie und woher der Gelbe Altenburg in den Garten von Familie Brügger fand, bleibt ein Geheimnis. Eines, das jede der aromatischen Früchte im Kern weiterträgt.