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Wie ein einfaches olivgrünes T-Shirt zum Symbol des Widerstandes wurde

Seit mehr als vier Wochen trägt der ukrainische Präsident bei praktisch jedem Videoauftritt ein Militärshirt. Warum er damit alles richtig macht und was Putin und Macron kleidertechnisch gerade falsch machen, erklärt eine Modesoziologin.

Es ist die immer gleiche Einstellung: Vorne das Pult, links die Fahne und in der Mitte sitzt Wolodimir Selenski im grünen T-Shirt: Olivgrün ist es, um genau zu sein, eng geschnitten, kragenlos und manchmal ist da noch ein Kreuz auf seiner linken Brust. Seit gut vier Wochen berichtet der ukrainische Präsident in diesen Militärshirts vom Untergang seines Landes. Auf Social Media, auf Videoschaltungen in die Regierungsgebäude dieser Welt. «Sie wissen ja, dass ich nicht vom Papier ablese», sagt er am 1. März vor dem Europaparlament. «Denn die Zeit, in der man etwas aufs Papier schreibt, ist vorbei, jetzt geht es ums Überleben.» Was er nicht sagte, aber jeder sah: Die Zeit, in der Selenski massgeschneiderte Anzüge trug, auch sie ist vorbei.

Ein radikaler Imagewechsel und ein Kontrast

«Dieses grüne T-Shirt ist mehr als nur ein Kleidungsstück, es symbolisiert den erneuten radikalen Rollenwechsel dieses Mannes», sagt Monika Kritzmöller, die in ihrem Institut Trends+Positionen als Modesoziologin forscht. Aus dem ehemaligen Komiker ist zuerst ein Staatsmann und nun ein Freiheitskämpfer wider Willen geworden. Den Kriegsausbruch in den frühen Morgenstunden des 24. Februars verkündete der ukrainische Präsident noch in einem dunkelblauen Anzug. Es war das letzte Mal. Seither trägt er ausschliesslich Tarnfarben. Er ist jetzt im Kampfmodus und sein gut trainierter Oberkörper, welchen man unter den eng anliegenden Shirts unschwer erkennen kann, unterstreicht das nur noch.

Monika Kritzmöller

«Das olivgrüne T-Shirt ist gut und wohl auch bewusst gewählt», sagt Kritzmöller. Selenski schaffe damit einen Kontrast, einerseits zu seiner früheren Rolle als Besänftiger, der noch im Januar fast schon abwinkte, als US-Präsident Joe Biden ihn vor einem möglichen Angriff Russlands warnte – andererseits setzt er mit seiner Kleidung so auch einen klaren Kontrast zu seinen präsidialen Amtskollegen in ihren sicheren Palästen, in ihren schönen Anzügen.» Ohne Worte werde so jedem Zuschauer die Botschaft übermittelt: «Ihr redet nur über Krieg, ich bin im Krieg.»

Ein Oberbefehlshaber ohne Orden und Abzeichen

Trotz seines Hintergrundes als Fernsehkomiker würden Selenskis Auftritte nicht inszeniert wirken, sagt Monika Kritzmöller.

«Er macht vielmehr den Eindruck, als hätte er seine historische Mission erkannt, und verkörpert sie.»

Selenski trägt dafür aber keine klassische Militäruniform mit Orden und Abzeichen. Er inszeniert sich nicht als mächtiger Oberbefehlshaber, wie einst Fidel Castro sondern als einfacher Soldat, einer, der quasi im Unterhemd dasitzt. «Das Shirt lässt ihn ungeschützt, verletzlich wirken, auch weil es keinen Kragen hat», erklärt die Modeexpertin. Kragen würden seit jeher nicht nur den Hals bedecken, sondern Macht und Status symbolisieren. Arme-Leute-Kleidung sei stets kragenlos gewesen. «Selenski gibt sich im Militärshirt als Mann des Volkes, einer, der jegliche Insignien der Macht abgelegt hat.» Das Shirt sei auch als Zeichen der Solidarität mit seinen Truppen, seinen Leuten zu verstehen. Selenski verleiht damit seiner Botschaft «Ich bleibe hier, ich lasse euch nicht im Stich» textilen Nachdruck.

Ein grünes T-Shirt, das mehr als alle Worte sagt: «Ihr redet nur über Krieg, ich bin im Krieg.» Selenski während einer Übertragung in den US-Kongress am 16. März

Mit dem Kreuz seiner Truppen auf der Brust sagte er zu den Abgeordneten des britischen Unterhauses Sätze wie: «Wir werden weiter für unser Land kämpfen, koste es, was es wolle, in den Wäldern, auf den Feldern, an den Ufern, auf den Strassen.» Mit ähnlichen Worten hatte Winston Churchill im Juni 1940 im Unterhaus sein Land auf die Verteidigung gegen Nazideutschland eingeschworen. Anders aber als etwa Churchill führt Selenski sein Land nicht staatsmännisch mit Zylinder, Fliege und Zigarre in den Krieg, sondern sitzt in seinem grünen Shirt in einem kargen Büro und spielt seine Rolle als ukrainischer David gegen den übermächtigen russischen Goliath perfekt.

«Putin erhebt sich über das Volk, Selenski ist das Volk»

Der Kontrast zu seinem Angreifer könnte schon rein kleidertechnisch nicht grösser sein. Auf der einen Seite der fast jugendlich wirkende 44-jährige Selenski im einfachen Shirt, dem die ganze Welt zuhört. Auf der anderen Seite der sichtlich gealterte 69-jährige Putin, der sich mit allen Insignien der Macht inszeniert und sich immer weiter isoliert.

Wladimir Putin hüllte sich während einer Ansprache letztes Wochenende in einen 12000 Franken teuren Daunen-Mantel.

Dafür fast schon sinnbildlich stand der Auftritt des russischen Präsidenten letzten Sonntag. Während er eine Rede hielt, um sein Volk trotz der massiven Sanktionen bei der Stange zu halten, liess er sich von einer Loro-Piana-Jacke im Wert von 12000 Franken wärmen. Die Reaktionen ob dieser Bigotterie liessen nicht lange auf sich warten. Flugs spendete das italienische Luxusunternehmen fünf Millionen Euro an die Ukraine, um den Imageschaden in Grenzen zu halten. «Früher trugen die Zaren Pelze, um sich von ihrem Volk abzuheben, heute trägt Putin Superdaunen, der Effekt ist der gleiche. Putin erhebt sich über das Volk, Selenski ist das Volk, sagt Kritzmöller.

Dass die modische Volksnähe aber auch zünftig in die Hose gehen kann, bewies letzte Woche einer, den man sonst fast nur in massgeschneiderten Anzügen kennt: Emmanuel Macron.

Emmanuel Macron letztes Wochenende im Élysée-Palast, nach dem Krisentelefonat mit lässigen Kapuzenpulli.

Der französische Staatspräsident trug während eines Krisentelefonats mit US-Präsident Joe Biden und Wolodimir Selenski Jeans und einen Kapuzenpullover der französischen Fallschirm­jäger-Spezialeinheit. Die Bilder aus seinem goldenen Arbeitszimmer führten zu einem mittleren Shitstorm. Zu anbiedernd, geradezu lächerlich fanden viele die sehr bewusste Inszenierung Macrons. Auch die Modesoziologin kann dem nichts abgewinnen:

«Se­lenski kämpft für sein Land, Macron macht lediglich Wahlkampf.»