Steve Guerdat holt Olympia-Silber und sagt: «Vor zwei Tagen habe ich mich total beschissen gefühlt»
Als Steve Guerdat um 12.00 Uhr auf dem Rücken der Stute Dynamix de Belheme als Letzter im Schlosspark von Versailles einreitet, weiss der 42-jährige Jurassier bereits, dass er erneut eine Olympia-Medaille gewinnen würde. Weil zuvor nur drei der dreissig Reiter ohne Strafpunkte geblieben waren, stellt sich nur noch die Frage, ob es wie 2012 in London Gold im Einzel, Silber oder wie 2008 in Hong Kong im Team Bronze wird.
Im Stechen geht Guerdat auf einem verkürzten Kurs hohes Risiko ein, verzeichnet beim vorletzten Hindernis einen Abwurf und gewinnt Silber. Bei seinen sechsten Olympischen Spielen komplettiert der Jurassier damit seinen Medaillensatz. Gold geht an Christian Kukuk auf Checker 47, der als einziger im Stechen fehlerfrei bleibt. Bronze sichert sich der Niederländer Maikel van der Vleuten auf Beauville Z, der wie Guerdat einen Abwurf verzeichnet, aber langsamer ist.
Sinnkrise nach Teamspringen
Natürlich habe er auf den Sieg gehofft, doch dem Abwurf trauerte er nicht lange nach, im Gegenteil. «Wenn ich etwas bereue, dann das, dass ich es vor zwölf Jahren in London nicht mehr genossen habe. Ich war damals sehr jung und konnte nicht einordnen, was passiert war. Vor Paris habe ich mir deshalb geschworen, dass ich es diesmal anders machen werde», sagte Guerdat danach, die Silbermedaille um den Hals hängend. «Ich bin glücklich und stolz. Denn mir ist bewusst, wie selten solche Erfolge sind.»
Vor seinen sechsten Olympischen Spielen hatte Guerdat gesagt, Dynamix de Belheme sei das beste Pferd, das er je geritten sei. Das Team um Martin Fuchs und Pius Schwizer «mit Abstand das stärkste» und die Medaille das Ziel. Doch dann verpasste die Equipe den Final – und Guerdat stürzte in eine Sinnkrise. Auf der Suche nach Erklärungen habe er alles infrage gestellt, sagte er. «Es waren drei sehr lange Tage. Ich habe mich total beschissen gefühlt, weil ich nicht gewusst habe, was schiefgelaufen ist.»
Stürze und Verweigerungen
Vor der Qualifikation im Einzel vom Montag sei er extrem nervös gewesen, doch die gute Leistung und der Null-Fehler-Ritt hätten ihm und Dynamix de Belheme wieder das nötige Vertrauen geschenkt. «Nachdem Dynamix so fantastisch geritten war, wusste ich, dass ich am Dienstag eine gute Leistung zeigen kann, auch wenn der Kurs sehr schwierig sein würde.»
Steve Guerdat erlebte im Schlosspark von Versailles innert wenigen Tagen die ganze Gefühlspalette: Von ratlos und zu Tode betrübt nach der grossen Enttäuschung im Teamspringen bis überglücklich nach dem Einzel.
Auf einem äusserst selektiven Kurs im Schlosspark von Versailles bleiben nur drei der dreissig Finalisten ohne Fehler. Fünf beenden den Parcours nicht, darunter der Olympiasieger von 2004 in Athen, der Brasilianer Rodrigo Pessoa. Mit dem Schweden Henrik von Eckermann stürzt der Favorit auf den Olympiasieg. Der 43-jährige ist die Nummer 1 der Welt, amtierender Weltmeister und Team-Olympiasieger von Tokio 2021.
Guerdat sagt, er habe in den letzten Jahren fast täglich an die Olympischen Spiele in Paris gedacht. Nun wolle er die Medaille, vor allem aber die Zeit mit seiner jungen Familie geniessen und weniger Turniere reiten. Zieht er sich zurück? «Nein, mir wird viel zu schnell langweilig», sagte er. «Ich habe viel zu sehr Freude an diesem Sport. Es fühlt sich für mich nie wie Arbeit an, weil die Freude und die Leidenschaft immer im Vordergrund stehen.» Und das dürfte sicher bis 2028 in Los Angeles weitergehen.
Enttäuschung für Martin Fuchs
Bis dahin weitermachen wird auch Martin Fuchs, der bei seinen dritten Olympischen Spielen erneut eine Enttäuschung hinnehmen musste. Auf Leone Jei als einer der Favoriten auf Gold angetreten, verlor der 32-jährige Thurgauer beim fünften Sprung den linken Bügel und schaffte es nicht, diesen wieder unter Kontrolle zu bringen. Ungewöhnlich sei das nicht, sagte Fuchs, aber äusserst selten. «Das passiert vielleicht ein Mal im Jahr.» Und nun ausgerechnet im wichtigsten Ritt der Olympiade.
Trotz erschwerter Bedingungen hatte der Vize-Weltmeister von 2018 einen starken Auftritt. Erst beim allerletzten Hindernis, jenem, das den nächsten Olympischen Spielen 2028 in Los Angeles gewidmet ist, mussten er und Leone Jei einen Abwurf hinnehmen – und verpassten damit das Stechen. Am Ende resultierte für Fuchs der zehnte Rang. Es ist ein schwacher Trost.