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Opfer von Missbrauch und psychische Probleme – und trotzdem ist Simone Biles die grösste Olympia-Sportlerin

Sie ist die erfolgreichste Turnerin der Geschichte und die grösste Olympia-Sportlerin der Gegenwart. Doch heute geht es Simone Biles nicht mehr nur um Medaillen und Rekorde.

Wenn Simone Biles anläuft und durch die Luft wirbelt, scheint für einen Augenblick die Zeit stillzustehen. Wenn sie landet, ihr Lächeln aufsetzt, sich verneigt, dann tobt das Publikum. Es gibt nur diese beiden Zustände: totale Anspannung und totale Ekstase. Ein Dazwischen? Gibt es nicht.

So war es vor acht Jahren in Rio de Janeiro, als sie 19-jährig vier Mal Gold gewann. Und so ist es in Paris, wo sie am Dienstag mit dem Team und am Donnerstag im Mehrkampf siegte. Mit sechs Goldmedaillen ist Biles die höchstdekorierte Turnerin in der Geschichte der Olympischen Spiele.

Der Leistungssport beruht auf der Dichotomie von Sieg und Niederlage, doch das Leben ist vielschichtiger. Es gibt ein Dazwischen. Und zwischen Tokio und Paris liegen die Jahre der Erkenntnis, dass Simone Biles, diese phänomenal erfolgreiche Sportlerin, kein übermenschliches Wesen ist.

«Sind nicht nur Entertainer»

Es geschieht am 27. Juli 2021, einem Dienstag im Ariake Gymnastics Centre in Tokio. Es ist der Tag des Teamfinals an den Olympischen Spielen und Biles erlebt eine Art Zusammenbruch. Am Startgerät misslingt ihr Sprung, worauf sie den Wettkampf abbricht – zum Schutz ihrer psychischen und körperlichen Gesundheit, wie sie später erklärt. Biles verzichtete dann auch auf vier der fünf weiteren Finals, für die sie sich alle qualifiziert hat.

Fünf Goldmedaillen hatte ihr die Sportwelt zugetraut, doch nun war die grösste olympische Athletin der Gegenwart nicht in der Lage, Elemente zu turnen, die sie eben noch traumwandlerisch sicher beherrscht hatte.

Bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio brach Simone Biles den Final im Teamwettkampf ab.
Bild: Gregory Bull/AP

Missbrauch durch den Trainer

Twisties nennen Turnerinnen die Furcht, in der Luft die Kontrolle über ihre Körper und bei Rotationen die räumliche Wahrnehmung zu verlieren. Als sie danach zu erklären versuchte, was gerade geschehen war, da begann sie zu weinen und sagte, sie habe mit «all diesen Dämonen» zu kämpfen. Und: «Wir sind nicht nur Entertainer, wir sind Menschen. Aber als Athleten verlieren wir manchmal den Kontakt zu unseren Gefühlen.»

Simone Biles hat in ihrem Leben einiges durchlitten. Mutter Shannon war drogenkrank, der Vater weg. Sie kam in eine Pflegefamilie und wurde mit sechs Jahren von ihrem Grossvater und dessen zweiter Ehefrau adoptiert. 2018 machte Biles öffentlich, dass der pädophile Sportarzt Larry Nassar auch sie sexuell misshandelt hatte, wie Hunderte andere. 2019 wurde ihr Bruder wegen Mordverdachts verhaftet. Der Prozess endete kurz vor den Sommerspielen in Tokio mit einem Freispruch aus Mangel an Beweisen.

Simone Biles im Herbst 2021 bei ihrer Aussage im Prozess gegen Larry Nassar.
Bild: Saul Loeb/AP

Wann immer Biles eine Wettkampfbühne betrat, erwartete das Publikum, erwartete sie selber, dass Aussergewöhnliches passieren würde. Und das tat es auch meistens: Fünf Elemente tragen inzwischen ihren Namen, weil sie sie uraufgeführt hat. Wenn sie turnt, tut sie das in einer eigenen Liga.

Am letzten Wettkampftag der Olympischen Spiele in Tokio trat Biles noch am Schwebebalken an. Sie vereinfachte ihre Übung, zeigte einen Abgang ohne Schrauben – und gewann die Bronzemedaille. Dann zog sie sich aus der Öffentlichkeit zurück. Viele glaubten, ihre Karriere sei damit zu Ende.

Mehr als ein Jahr lang bestritt sie nach Tokio keine Wettkämpfe, begab sich in Therapie. «Nach allem, was ich durchgemacht habe, hätte ich lange vor Tokio aussteigen sollen.» Aber sie habe nicht zugelassen, dass ihr Larry Nassar etwas wegnehme, auf das sie seit der Kindheit hingearbeitet habe. «Solange es mein Geist und mein Körper mitmachten, schob ich es weg.»

Bis heute in therapeutischer Behandlung: Simone Biles.
Bild: Francisco Seco/AP

Ehemann als grosse Stütze

In der Therapie entwickelte Biles Methoden, um besser mit dem Druck und der Nervosität umzugehen. Trainiert hatte sie nur unregelmässig mit in der Károlyi-Ranch, dem grössten Leistungszentrum, das Schauplatz der Übergriffe Nassars gewesen war. «Die anderen Turnerinnen waren sich die selbstbewusste, kichernde Simone gewohnt, und nun sass ich weinend da, weil ich Angst hatte. Ich dachte 500’000 Mal darüber nach, aufzuhören.» Ohne den Zuspruch der Kolleginnen, sagt Biles, wäre sie zurückgetreten.

Im Frühling 2023 hat Biles den Footballspieler Jonathan Owens geheiratet. Sie betonte immer wieder, was für eine wichtige Stütze er ist. Sein Klub, die Green Bay Packers, haben ihn von der Saisonvorbereitung freigestellt, damit er seine Ehefrau bei den Wettkämpfen in Paris unterstützen kann.

Biles‘ Ehemann Jonathan Owens (l.) mit den Eltern Ron und Nellie Biles.
Bild: Morry Gash/AP

Erst kurz vor der Hochzeit hatte Biles sich zum Comeback entschieden. An der WM in Antwerpen im Herbst 2023 gewann sie vier Mal Gold und ein Mal Silber. Und doch sagt Biles, sei es ihr grösster Erfolg, nun wieder bei Olympischen Spielen zu turnen und «das Risiko einzugehen, verwundbar zu sein» und die «Last einer ganzen Nation auf den Schultern zu tragen».

Obwohl sie sich damit nicht unbedingt wohl fühle, akzeptiere sie ihre Rolle als Vorbild für Menschen mit psychischen Problemen und Opfer sexuellen Missbrauchs. Dem Magazin «Vogue» sagte sie: «Ich betrachte es als eine Ehre, für die weniger Glücklichen und jene ohne Stimme zu sprechen.»

Simone Biles hat ihr Lächeln wiedergefunden.
Bild: Caroline Brehman/<br/>EPA

Ehrenmedaille von Joe Biden

Dafür bekam Biles 2022 vom US-Präsidenten Joe Biden die Presidential Medal of Freedom verliehen, den höchsten zivilen Orden in den USA. Die 1,42 Meter kleine Biles, aufgewachsen ohne Vater, die Mutter suchtkrank, vom Trainer sexuell missbraucht, ist heute die erfolgreichste Turnerin der Geschichte und die grösste Olympia-Sportlerin der Gegenwart.

Schon am Dienstag versöhnte sie sich, drei Jahre nach dem Tiefpunkt von Tokio, mit der Vergangenheit. Nach ihrer Bodenübung in Teamwettkampf kam es in der Arena Bercy zu stehenden Ovationen. Unter «USA, USA»-Rufen setzte Simone Biles ihr unverkennbares Lächeln auf, hüllte sich in eine amerikanische Flagge und liess sich im Kreis ihrer Kolleginnen feiern.

Simone Biles nach dem Olympiasieg im Teamwettkampf mit Jade Carey, Suni Lee, Jordan Chiles und Hezly Rivera.
Bild: Charlie Riedel/AP

Wieder war es wie immer auf der Wettkampfbühne. Wieder gab es nur diese zwei Zustände. Totale Anspannung, totale Ekstase. Kein Dazwischen.

Heute weiss Simone Biles, und viele andere wissen es auch: So ist der Sport, nicht aber das Leben. Zwei Goldmedaillen hat sie in Paris schon gewonnen, dazu steht die 27-Jährige zwischen Samstag und Montag in drei weiteren Gerätefinals, im Sprung, am Boden und am Schwebebalken.

Doch heute geht es Simone Biles nicht mehr nur um Medaillen und Rekorde. Sondern darum, «mein eigenes Ende zu schreiben».

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