Digitec will, dass Mitarbeitende auch nachts für die schnelle Lieferung arbeiten – dabei sind Löhne tief und der Druck hoch
Fast zwei Milliarden Franken setzte das der Migros gehörende Online-Warenhaus Digitec Galaxus im vergangenen Jahr um – über 14 Prozent mehr als im Vorjahr. Vom Kopfhörer über den Weihnachtspullover bis hin zum Bürostuhl verkauft der Händler alles, was ein Haushalt braucht – und liefert es teils noch am gleichen Tag. Doch jetzt ist das grösste Schweizer Online-Warenhaus existenziell gefährdet. Das versucht es zumindest, Richtern glaubhaft zu machen.
Digitec Galaxus hat beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) beantragt, dass es seine Mitarbeitenden im Logistikzentrum auch in der Nacht und an Feiertagen beschäftigen dürfe. An das Seco war der Händler gelangt, nachdem der Kanton Aargau ein entsprechendes Gesuch abgelehnt hatte. Das sei äusserst dringend: Bei einer Ablehnung des Gesuchs könnte Digitec Galaxus das Geschäft gegenüber ausländischen Mitbewerbern nicht mehr erfolgreich betreiben und müsste es «massiv verkleinern oder sogar schliessen», argumentieren die Anwälte des Onlinehändlers.
Digitec-Argumentation «nicht plausibel»
Sie waren ans Bundesverwaltungsgericht gelangt, nachdem das Seco das Gesuch abgelehnt hatte. Auch dieses entsagte der Migros-Tochter den Support: Ein besonderes Konsumbedürfnis vermochten die Richter im schnellen Verschicken von haltbaren Konsumgegenständen nicht erkennen. Das geht aus dem am 24. November gefällten Urteil hervor, das CH Media vorliegt.
Die Richter zerzausten die Argumentation regelrecht. Die Behauptung, Kundinnen und Kunden wären ohne Nachtarbeit gezwungen, in Läden einzukaufen oder auf ausländische Händler auszuweichen, sei «nicht plausibel». Sprich: Das Schraubenzieher-Set oder die Schwimmflügel entsprechen kaum einer dringenden Not.
Ganz so ernst dürfte es Digitec Galaxus mit den Drohungen nicht gewesen sein. Auf Anfrage will der Onlinehändler die Niederlage vor Gericht nicht kommentieren – und offensichtlich musste das Geschäft auch nicht eingestellt werden. Doch das Urteil wirft ein Schlaglicht auf die Arbeitsbedingungen einer Branche, die während der Coronakrise einen ungeahnten Wachstumsschub erfahren hat und in der gilt: Der schnellere ist der bessere – aber kosten darf es nichts.
Arbeitstage werden länger
Der Onlinehandel generierte hierzulande laut Zahlen des Beratungsunternehmens Carpathia im vergangenen Jahr 14,4 Milliarden Franken Umsatz, dieses Jahr wird eine ähnliche Zahl erwartet. Die umsatzstärksten Onlineshops sind hierzulande jene des deutschen Kleiderhändlers Zalando, gefolgt vom auf Elektronik spezialisierten Digitec, Amazon, dem Online-Warenhaus Galaxus und dem Elektronikhändler Brack.
Mit schneller und günstiger Lieferung versuchen die Shops, die Kundschaft zu begeistern. Bis 19 Uhr eingegangene Bestellungen würden in 95 Prozent der Fälle am nächsten Tag verschickt, verspricht Digitec Galaxus. Versandkosten werden nicht fällig. Brack verspricht die kostenfreie Lieferung am nächsten Tag bei Bestelleingang bis 17 Uhr.
Damit das klappt, braucht es nicht nur moderne Logistikcenter, sondern auch Mitarbeitende bei der Post und Lieferdiensten, die Pakete bei Wind und Wetter ausliefern, und zwar möglichst speditiv. Deren Arbeitstage werden – insbesondere rund um umsatzstarke Tage wie «Black Friday» oder vor Weihnachten – immer länger. Dass Mitarbeitende der Post, ihrer Tochterfirma Notime oder von privaten Logistikern noch um 23 Uhr auf ihren Gefährten durch die Städte fahren, ist mittlerweile kein seltenes Bild.
«Muss Ausnahme bleiben»
So sollten etwa bei der Post die Paketouren zwar um 22 Uhr zu Ende sein. Aber in Spitzenzeiten wie vor Weihnachten könne es auch vorkommen, dass Mitarbeitende Überstunden machen, sagt Post-Sprecherin Denise Bircher. Die Angestellten könnten jede einzelne Überstunde kompensieren. Dasselbe gelte für Notime.
Anne Rubin von der Gewerkschaft Unia verurteilt das Vorpreschen von Digitec Galaxus. Es sei weder nachvollziehbar noch sozial nachhaltig die Gesundheit und das Sozialleben der Angestellten zu opfern, damit ein Kunde am nächsten Tag eine neue Kaffeemaschine oder Gartenwerkzeug erhält. «Nacht- und Sonntagsarbeit muss eine strikte Ausnahme bleiben», sagt Rubin. Man sei im Interesse der Angestellten froh, dass das Bundesverwaltungsgericht und das Seco dies auch so sehen.
Die wirtschaftliche Unentbehrlichkeit, in der Nacht zu arbeiten, ist laut Rubin bei der Migros-Tochter nicht gegeben. Denn Digitec Galaxus gehöre nicht zur Schwerindustrie, welche beispielsweise in der Nacht bereits Öfen aufzuheizen müsse. Und beim Produktportfolio des Online-Warenhauses handle es sich nicht um verderbliche Waren, die nachts verarbeiten werden müssten, um am nächsten Tag frisch abgeliefert werden zu können.
Will Kundschaft schnelle Lieferung?
Komme hinzu, so Rubin, dass die Arbeitszeitflexibilität schon heute hoch sei. Die Digitec-Galaxus-Angestellten hätten regelmässig Sechs-Tage-Wochen, was das Sozial- und Familienleben beeinträchtige. Kurzfristige Planungsänderungen seien ebenfalls Tatsache. Zwar habe das enorme Chaos, das insbesondere in der ersten Jahreshälfte herrschte, inzwischen abgenommen. Der Leistungsdruck bleibt aber sehr hoch. Die Teamleiter müssen laut Rubin stündliche Reports liefern – mit psychologischen Folgen bei den Angestellten: Sie wissen, dass sie ständig überwacht sind und alles, was sie tun oder nicht tun, gemessen wird.
Rubin anerkennt, dass Digitec Galaxus nach vermehrter Kritik im Frühjahr die Liefer-Option «Schneckenpost» lanciert hat, um den Druck auf das Logistikpersonal zu vermindern. Damit können Kundinnen und Kunden der Firma klarmachen, dass sie auf die bestellte Ware problemlos einige Tage warten können. Kürzlich kommunizierte das Migros-Unternehmen, dass bereits jede fünfte Bestellung via «Schneckenpost» versandt wird.
Dies zeigt laut Rubin, dass das angebliche Bedürfnis der Kundschaft nach einer ultraschnellen Lieferung nicht existiere. Diese Argumentationsweise sei im Detailhandel aber leider nicht neu. Die Richter sehen das gleich wie die Unia: Selbst wenn die Kundschaft eine solche Erwartungshaltung hätte, schreiben sie «entspräche das keinem öffentlichen Interesse».