Umfrage zeigt grosse Wissenslücke bei der zweiten Säule: Wer davon im Abstimmungskampf profitiert
Gleich zwei grosse Rentenabstimmungen erlebt die Schweiz in diesem Jahr. Im März sagte die Bevölkerung deutlich Ja zur einer 13. AHV-Rente. Es war eine einfache Vorlage. Eine zusätzliche Monatsrente analog zum 13. Monatslohn. Jede und jeder wusste, wie ihn die Initiative betrifft. Anders sieht es bei der zweiten grossen Rentenabstimmung in diesem Jahr aus. Im September kommt die Reform der beruflichen Vorsorge (BVG) an die Urne. Die Vorlage ist ungemein komplexer, die eigene Betroffenheit zu eruieren fast ein Ding der Unmöglichkeit. Es gibt über 1400 Vorsorgeeinrichtungen in der Schweiz – mit unterschiedlichen Strukturen und Leistungen.
Erschwerend kommt dazu, dass das Wissen der Schweizer Bevölkerung über die zweite Säule der Altersvorsorge eher bescheiden ist. Und nicht nur dies, wie eine neue Sotomo-Studie im Auftrag der Zurich Versicherung zeigt: Die Bevölkerung hat auch eine stark verzerrte Vorstellung von der Ausgestaltung der beruflichen Vorsorge.
Das zeigt sich bei zwei zentralen Punkten der Abstimmungsvorlage: Dem Obligatorium und dem Mindestumwandlungssatz.
Überobligatorium wird unterschätzt
Die Pensionskassenreform betrifft nämlich nur die gesetzlichen Mindestvorschriften des BVG – das so genannte Obligatorium. Es umfasst Jahreseinkommen zwischen der Eintrittsschwelle von 22’050 Franken und 88’200 Franken. Für das Obligatorium gibt es Mindestvorschriften zu Verzinsung, Beitragshöhe und Umwandlungssatz. Versicherte Löhne über der Obergrenze von 88’200 Franken zählen zum Überobligatorium, wo es eben keine gesetzlichen Mindestvorschriften gibt. Zu den überobligatorischen Leistungen zählen auch, wenn etwa ein Arbeitgeber den gesamten Lohn versichert (ohne Koordinationsabzug) oder wenn er mehr als die obligatorischen Beiträge bezahlt.
Die Sotomo-Befragung von 1666 Personen aus der Deutsch- und Westschweiz zeigt nun, dass nur 42 Prozent den Unterschied zwischen dem Obligatorium und dem Überobligatorium kennen. 62 Prozent wiederum glauben, dass vorwiegend gut verdienende Personen Pensionskassenguthaben im überobligatorischen Bereich besitzen und 70 Prozent der Befragten wissen nicht, ob sie auch überobligatorische Anteile besitzen.
Gemäss einer Studie im Auftrag der Frauenorganisation Alliance F sind lediglich 15 Prozent nur oder vorwiegend im BVG-Obligatorium versichert. Die Oberaufsicht der Beruflichen Vorsorge hält fest, dass der Anteil des Überobligatoriums an den gesamten Pensionskassenguthaben bei 61 Prozent liegt. Die befragten Personen schätzen diesen Anteil lediglich auf 33 Prozent.
Falsche Angaben über die Betroffenheit
Mit anderen Worten: Die Bedeutung des Überobligatoriums wird stark unterschätzt. Für die Abstimmung vom September ist dies relevant, weil die Vorlage nur den Obligatorischen Teil des BVG betrifft.Das Innendepartement von SP-Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider hält denn auch auf fest:«Die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben eine berufliche Vorsorge, die so deutlich über die gesetzlichen Mindestleistungen hinausgeht, dass die Reform auf ihre Renten keine direkten Auswirkungen hat.» Auch wer bereits pensioniert ist, hat keine Folgen zu befürchten.
Inzwischen hat denn auch der Schweizerische Gewerkschaftsbund eine offensichtlich falsche Aussage auf seiner Internetseite korrigiert, wie die NZZ publik machte. Während über einem Jahr hiess es dort: «Das Parlament hat beschlossen, dass wir alle weniger Pensionskassen-Renten bekommen und dafür auch noch höhere Beiträge zahlen sollen.» Der Gewerkschaftsbund hat das Wort «alle» letzte Woche eliminiert und die Aussage korrigiert.
Was ist schon wieder der Umwandlungssatz?
Die Unterscheidung zwischen Obligatorium und Überobligatorium ist auch für den Umwandlungssatz relevant, einem der zentralen Punkte der BVG-Reform. Der Mindestumwandlungssatz soll von 6,8 auf 6 Prozent gesenkt werden. Dieser bestimmt, wie hoch die Rente ausfällt. Bei einem Pensionskassenkapital von 100’000 Franken beträgt die Rente bislang 6800 Franken pro Jahr. Künftig sollen es nur noch 6000 Franken sein. Grund für die geplante Senkung ist vor allem die gestiegene Lebenserwartung.
Der Mindestumwandlungssatz gilt wiederum nur für das Obligatorium. Im Überobligatorium kann er tiefer sein. Oft gilt ein so genannt «umhüllender» Umwandlungssatz sowohl für das Obligatorium und das Überobligatorium. Gemäss der Oberaufsicht Berufliche Vorsorge liegt der durchschnittliche umhüllende Umwandlungssatz bei 5,2 Prozent.
Doch was wissen die Befragten der Sotomo-Studie über den Umwandlungssatz? Erstaunlich wenig. Nur 37 Prozent wissen mit Sicherheit, was der Umwandlungssatz ist. Und nur 22 Prozent kennen den persönlichen Umwandlungssatz. Und ebenfalls nur ein Drittel der Befragten weiss, dass es für das Obligatorium und das Überobligatorium unterschiedliche Umwandlungssätze gibt.
Weiter zeigt die Befragung, dass der umhüllende Umwandlungssatz mit 6,2 Prozent deutlich zu hoch eingeschätzt wird. Ebenfalls zu hoch fällt die Schätzung aus, wie viele Versicherte aufgrund des tieferen Mindestumwandlungssatzes eine Renteneinbusse erleiden würden. 63 Prozent schätzten die Befragten. Gemäss einer Expertenschätzung im Auftrag von Alliance F sind es 15 Prozent.
Vorteil liegt bei den Gegnern
Was heisst das nun für den Abstimmungskampf? Michael Hermann, Leiter der Forschungsstelle Sotomo sieht einen deutlichen Vorteil für die Gegner der BVG-Reform. Die Befürworter müssten nicht nur gegen fehlendes BVG-Wissen ankämpfen, sondern zusätzlich auch gegen verbreitete Fehleinschätzungen.
«Die Gegnerschaft kann sich das zunutze machen und die Verunsicherung in der Bevölkerung verstärken», sagt Hermann. Je mehr sich widersprechende Aussagen, Einschätzungen und Behauptungen im Raum stünden, desto eher klammere sich die Bevölkerung an den Status quo. Die Befürworter aus dem bürgerlichen Lager haben laut Hermann nur eine Chance, wenn es ihnen gelingt, die Informationsdefizite zu beseitigen.