Peter Stamm ist der Grüne, den sogar die SVP wählt: Jetzt will er in den Nationalrat. Was steckt hinter seinem Schachzug?
Peter Stamm wählt als Treffpunkt einen Zürcher Bahnhof, er ist Zugreisender aus Verantwortung und Leidenschaft. Zudem passt der Ort perfekt zum Image eines Mitglieds der Grünen Partei. Es gibt kaum etwas, was der Schriftsteller nicht im Zug erledigen kann. Als Gesprächspartner ist er die Ruhe selbst, erlaubt sich hintersinnige Ironie und ist sich zudem nicht zu schade, über sich selbst zu lachen.
Die Grünen sind die Partei, die mir vorschreiben will, wie ich zu leben habe, denke ich mir manchmal. Woher nehmen Sie dieses Recht?
Peter Stamm: Die Politik macht das doch sowieso immer: Ich soll nicht so viel rauchen, sagt sie, darum muss ich so viel Steuern auf die Zigaretten bezahlen, die Politik sagt, ich soll nicht so viel Alkohol trinken und an der Ampel bei Rot anhalten … Was die grünen Ziele betrifft, geht es nicht um Verbote, sondern um Kostengerechtigkeit.
Den «linksgrünen Verbotswahn», den Ihnen die SVP vorhält, negieren Sie demnach gänzlich?
Wenn wir keine Gesetze wollen, müssen wir Anarchisten werden. Aber solange wir Gesetze haben, ist es sinnvoll, dass wir gute Gesetze haben. Und dafür setzen sich die Grünen ein.
Sie haben als Mitglied im Club der Guten also einen Wahrheitsanspruch?
Für mich waren die Grünen nie eine ideologische Partei, sondern eine Problemlösungspartei. Deshalb gibt es auch viele Macher, Ingenieurinnen und Ingenieure bei den Grünen.
Auch die Klimakleber sind Macher, Sie verstehen ihre Motive?
Ja, das tue ich. Aber ich finde, es darf nicht dabeibleiben, sich nur auf der Strasse festzukleben. Irgendwann muss man auch an Lösungen arbeiten. Aber natürlich verstehe ich sie.
Ihr eigener Nachwuchs ist auch mit dabei?
Mit meinen Söhnen war ich einmal an einer grossen Klima-Demo, das war schön. Einer von ihnen wollte dann an eine Demo in Deutschland fahren, da habe ich ihm gesagt: Es reicht nicht, an Demos zu gehen, man muss die Dinge auch in die Hand nehmen.
Genau das tun Sie, Sie lassen sich regelmässig für die Grünen des Bezirks Winterthur als Nationalrat aufstellen. Gewählt wurden Sie allerdings noch nie. Nennt man das Symbolpolitik?
Ich war auch schon auf Listen des grünen Gemeinderates und des grünen Kantonsrates …
Sie sammeln Listenplätze, ist das ein Hobby?
Genau, ich will immer gerne auf Listen sein (lacht). Nein, ich will, dass ich den Grünen ein paar Stimmen bringe.
Und wie viele sind das so im Durchschnitt?
Das weiss ich nicht, keine Ahnung. Ich habe kürzlich nachgesehen, als meine Kinder mich gefragt haben. Aber ich habe es wieder vergessen.
Weil man Niederlagen gerne vergisst?
Nein, nein, ich will ja gar nicht gewählt werden! Es geht nur darum, dass ich für die Grünen Stimmen hole, von Leuten, die sonst andere Parteien wählen.
Wie hoch ist Ihr Wahlbudget?
(Lacht.) Ich habe kein Budget.
Ihr mangelnder Ehrgeiz ist erstaunlich. Wenn man der Partei ernsthaft helfen will, investiert ein erfolgreicher Schriftsteller wie Sie doch in sein Ziel!
Das stimmt, ich gebe deshalb Interviews …
Sind denn Ihre Lesungen Wahlveranstaltungen, auf denen Sie Flyer auslegen?
In Deutschland hat das wenig Sinn. Aber auf meiner nächsten Lesung im Kanton Zürich werde ich vielleicht etwas sagen. Falls sie vor den Wahlen ist.
WWF Schweiz und Greenpeace Schweiz zusammen investieren in den Wahlkampf 400’000 Franken. Weshalb geht kein Cent an Sie?
Das Gegenteil ist sogar wahr. Der WWF unterstützt nicht mich, sondern ich sie, mit meinem Mitgliederbeitrag.
Da läuft was falsch …
Vielleicht könnte ich ja wenigstens eine Gratis-Mitgliedschaft herausschlagen (lacht). Nein, es ist so, nicht ich wollte auf die Liste, sondern die Partei hat mich angefragt. Ich mache sonst schon zu wenig für sie, gelegentlich eine Lesung, aber ich müsste mehr machen. Also habe ich gerne Ja gesagt.
Man könnte sich denken: Sie haben die Ohnmacht des Schriftstellers satt und wollen den Worten Taten folgen lassen.
Ich habe das sogar selbst einmal behauptet. Weil gewisse Autoren wissen, dass das Schreiben kein sehr männlicher und kein sehr heldenhafter Beruf ist, versuchen sie, sich mit politischen Statements ins Zentrum zu rücken. Ich halte davon nicht sehr viel, weil es oft sehr wohlfeil ist. Da, wo ich auftrete und spreche, sind ohnehin nur die Leute, die auch mehr oder weniger meiner Meinung sind. Die anderen werde ich auch nicht überzeugen, wenn ich Parolen schreie. Ausserdem, je älter ich werde, desto weniger will ich anderen Menschen vorschreiben, was Sie denken sollen.
Wie kann man mit dieser Haltung Mitglied einer Partei sein?
Das ist eine gute Frage. Weil ich die grünen Anliegen eben doch sehr wichtig finde. Früher habe ich gesagt, wer nicht grün wählt, ist entweder dumm oder unmoralisch. Heute sage ich das nicht mehr, aber ich denke das schon insgeheim.
Schon wieder: Sie, die Grünen, wissen, was richtig ist!
Ja, in gewissen Dingen weiss ich schon, was richtig ist. Ich versuche danach zu leben. Einigermassen, so gut es geht.
Keine Parolen also, sondern ein Rückzug ins Private als politische Geste?
Ich glaube schon, dass meine Bücher auf eine Art auch politisch sind, aber nicht im Sinne einer Tagespolitik. In Bezug auf Menschlichkeit und die Weise, die Welt zu sehen und mit ihr umzugehen. Ausserdem ist Lesen die umweltfreundlichste Freizeitbeschäftigung.
Sie halten es mit Blaise Pascal, der meinte: «Das ganze Unglück der Menschen rührt daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen»?
Vielleicht nicht das ganze Unglück. Aber eine gewisse Gelassenheit und Selbstbeschränkung täten uns wohl allen gut. Besonders bei gewissen Politikern wäre ich froh, wenn sie etwas passiver wären. Oder wenigstens etwas mehr nachdächten, bevor sie ihre Zimmer verlassen und aktiv werden.
Blaise Pascals Aufruf zur Laisser-faire entspricht der natürlichen Wirtschaftsfeindlichkeit eines Grünen …
Die Wirtschaftsgeschichte ist eine Geschichte der Anpassung an sich verändernde Umstände. Der Kampf der Autobauer in den USA gegen Elektroautos ist aussichtslos und führt höchstens dazu, dass die amerikanische Autoindustrie nicht mehr konkurrenzfähig ist. Natürlich braucht es weniger Arbeiter für ein Elektroauto als für einen Benziner. So gedacht hätten wir aber noch die Todesstrafe, weil ihre Abschaffung dazu führte, dass die Scharfrichter arbeitslos wurden. Die DNA der Industrie ist die Anpassung. Im Moment haben wir ja eher zu wenig als zu viele Arbeitskräfte, also glaube ich nicht, dass man so argumentieren kann.
Sie sind für noch mehr Einwanderung in die Schweiz?
Kürzlich habe ich mit einem Paläontologen ein Gespräch geführt. Er sagt, so wie sich unser Klima verändere, würde die Migration sicher zunehmen. Die Menschen werden kommen, das ist klar. Wir haben nur zwei Möglichkeiten, wir helfen ihnen dort, wo sie sind. Oder wir integrieren sie bei uns. Er habe das auch an einer SVP-Veranstaltung gesagt: Wenn ihr gegen die Migration seid, müsst ihr etwas gegen den Klimawandel tun. Das hätten die nicht gerne gehört. Gemäss der SVP gab es den Klimawandel ja lange nicht und jetzt soll es plötzlich zu spät sein, etwas gegen ihn zu unternehmen.
Es gibt in der Gesellschaft die Idee, dass sich Kunst nicht um Politik kümmern soll. Linke Autoren und Autorinnen sehen das oft anders. Sibylle Berg zum Beispiel will für die deutsche Satire-Partei ins Europaparlament gewählt werden. Ist das dieser «wohlfeile» Versuch der Einflusslosen, sich mit politischen Parolen zu exponieren?
Für Sibylle Berg als Bürgerin finde ich es richtig, das zu tun. Bürger und Bürgerinnen sollten sich an der Politik beteiligen. Aber ich denke nicht, dass es mit ihrer Arbeit als Schriftstellerin viel zu tun hat. In der Geschichte gibt es mehr Autoren, die ganz fürchterliche Ansichten vertreten haben, als solche, die erfolgreiche Politik betrieben haben. Václav Havel vielleicht. Andere waren schlimme Nazis oder Kommunisten: Es gibt eine lange Geschichte der schriftstellerischen Täuschung, was Politik angeht, von daher würde ich sagen: Seid vorsichtig!
Als prägender, langjähriger «Nebelspalter»-Autor, der Sie einmal waren, wären Sie prädestiniert, einer Satire-Partei Schweiz vorzusitzen. Ein Versäumnis?
Wir hatten mit dem «Nebelspalter» eine Initiative lanciert, um im Bundeshaus einen Hofnarren zu etablieren. Es wäre eine Art Joker gewesen, jemand, der stört, der unangenehme Fragen stellt und Lächerlichkeiten entlarvt: Joachim Rittmeyer könnte so ein Hofnarr sein. Oder Lara Stoll. Jemand, der jung ist, im Bundeshaus fehlt es ohnehin an jungen Menschen. Vielleicht ein Klimakleber? Er müsste allerdings darauf verzichten, sich irgendwo anzukleben. Aber Klimakleber denken oft ideologisch. Ein Hofnarr dürfte keine Scheuklappen tragen.
Zurück zu Ihrer Wahl zum Nationalrat am 22. Oktober. Wissen Sie, weshalb Sie bisher nicht gewählt wurden? Weil man weiss, dass Sie letztlich gar nicht in den Politbetrieb wollen?
Ich rutsche auf der Liste jeweils schon immer ein paar Plätze nach oben. Und ich kriege auch immer ein paar Stimmen von bürgerlichen Listen, von der FDP, und sogar ein paar von der SVP. Ich stehle denen ein paar Stimmen, das ist doch schön!
Zöge man Sie übernächstem Sonntag tatsächlich zur Verantwortung und wählte Sie, wer schriebe dann Ihre Bücher? Die KI?
Auf keinen Fall die KI! Ich habe ja auch Informatik studiert und schon im Studium damit Bekanntschaft gemacht. Die künstliche Intelligenz ist seither kein bisschen intelligenter geworden. Bloss besser im Vortäuschen von Intelligenz, von daher habe ich keine Angst. Von der KI wird nie etwas Neues kommen, oder allenfalls Unsinn. Schreibprogramme, die Unsinnstexte verfassen, gibt es seit den Sechzigerjahren. Nein, wenn ich gewählt würde, dann würde ich keine Bücher mehr schreiben können. Das war oft so, dass Autoren, die politisch aktiv wurden, nicht mehr viel oder nicht mehr gut geschrieben haben, Václav Havel zum Beispiel und vermutlich auch Günter Grass.
Für welches Thema würde sich denn Nationalrat Stamm im Parlament als Erstes starkmachen?
Natürlich für die Umwelt, die Energiewende, die teilweise ja bereits stattfindet. Die Ewiggestrigen wollen die Atomkraft zurückholen, die NZZ ist da ganz vehement dahinter. Das scheint mir eine Sackgasse zu sein. Es gibt genug umweltfreundliche Energie, wir müssen sie nur ernten.
Ihre Partei fordert die Energiewende, aber Solaranlagen im Wallis verhindert sie mit dem Argument Naturschutz. Wissen die Grünen selbst nicht, was sie wollen?
Ich finde auch, man darf nicht sinnlos Landschaften verbauen! Vor allem, wenn man stattdessen Hausdächer, Autobahnen oder Parkplätze mit Solarzellen überdachen könnte. Natürlich wird man für die Energiewende in die Landschaft eingreifen müssen, das ist ja schon immer passiert. Unsere Landschaft ist eine Kulturlandschaft und keine Naturlandschaft. Die Frage ist einfach, wie und wo und wie viel wir eingreifen.
Just das ist Politik. Sie besteht aus Kompromissen, die man gemeinsam mit andern am Tisch aushandelt. Nicht aus Papier, das man als Autor alleinmächtig beschreibt. Ich verstehe Ihre Unlust auf ein Politikerleben …
Es stimmt schon, dass ich als Schriftsteller eine Art König in meinem Reich bin. Da gibt es keine demokratischen Entscheidungen. Als Politiker wäre ich einer von vielen in einem Parlament. Aber es gibt ja Leute, die das gut und gerne machen. Ich glaube, es gibt unabhängig von der Parteizugehörigkeit ein Politiker-Gen, das man für ein solches Amt haben muss.
Sie kommen soeben von einer Lesereise in Deutschland zurück. Das Land ist in einer Migrationskrise, die AfD liegt in Umfragen bei 22 Prozent. Die Stimmung muss düster sein …
Bei reichen Leuten habe ich das festgestellt, was ich auch in der Schweiz sehe: Je reicher jemand ist, umso mehr Angst scheint er zu haben. Absurd, eigentlich. Wenn man reich ist, könnte man sich sagen, wenn ich auch viel verliere, habe ich immer noch viel. Die Schweiz ist ein sehr ängstliches Land. Und auch ein ziemlich egoistisches Land.
Aha?
Die Schweizer Ukraine-Politik beruft sich auf die Neutralität. Neutralität als Gottes Wort, das finde ich schon ein bisschen schäbig! Wenn es um Geschäfte mit Schurkenstaaten ging, waren wir nie so wählerisch und so vorsichtig.
Wie wird am 22. Oktober über die Zukunft des Landes entschieden? Werden wir eine zubetonierte 10-Millionen-Schweiz?
Wieso sollen gerade 10 Millionen zu viel sein? Warum nicht elf oder neun oder vier? Das sind Schlagworte. Solche fixen Bilder verhindern eine gute Politik, es geht darum, auf Veränderungen zu reagieren, Ideale helfen nicht. In der Politik sollten Ideale moralischer Natur sein, aber nicht einen zufällig gewählten Idealzustand verteidigen.
Wie werden die Grünen abschneiden?
Diese ganzen Prognosen und Umfragen bringen doch nichts, meistens stimmen sie ja doch nicht. Man kann sich die halbe Zeitung sparen, wenn man diese spekulativen Artikel nicht liest. Eine Partei sollte nicht nach Prozenten gieren, sie hat eine Idee, und diese Idee soll sie vertreten …
Was jetzt? Die Prozentzahl entscheidet doch über den Einfluss. Wollen die Grünen vielleicht gar nicht gewinnen?
Sicher wollen sie gewinnen und müssen sie gewinnen. Es gibt viele grüne Politiker, die mit Leidenschaft um ein Amt kämpfen. Aber ich bin nicht dieser Typus des Politikers, der unbedingt gewinnen will. In meinem Gebiet der Literatur will ich natürlich gut sein, da steckt mein Ehrgeiz. Nicht in der Politik.
Also feiern Sie am Wahlsonntag Ihre Niederlage, und wie?
Das ist direkt nach der Frankfurter Buchmesse, und ich werde dann vermutlich für meine Familie kochen, weil ich vorher ein paar Tage weg war. Dann werde ich schauen, dass sie etwas Anständiges zu essen kriegen (lacht).