Pestizide schneller zulassen: Umweltverbände sind alarmiert, Bauern und Industrie ungeduldig
Pflanzenschutzmittel, die in EU-Ländern zugelassen sind, automatisch genehmigen – ohne Verzögerung, wie sie heute besteht. Das verlangt die Totalrevision der Pflanzenschutzmittelverordnung, die bis am Sonntag in der Vernehmlassung war.
Dass sich die Schweiz für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln an der EU orientiert, ist zwar nicht neu. Seit 2010 werden Wirkstoffe, die in der EU genehmigt sind, von der Schweiz nicht mehr extra beurteilt. Nach der neuen Verordnung müssten Zulassungen einzelner EU-Länder nun aber zwingend berücksichtigt werden. Das war vorher fakultativ. Was der Bundesrat in der Totalrevision sagt: Die Annäherung an die Gesetzgebung der EU wird fortgesetzt, ein kleiner Schritt, Feinjustierung.
«Das halte ich für falsch», sagt Hans Maurer, Experte für Umweltrecht und Vertreter der Umweltverbände. Er sieht die Totalrevision als weiteren Schritt dazu, Gesundheits- und Umweltbedenken zugunsten der Interessen der Agrochemie fallen zu lassen.
Zusätzliche Gefährdung statt Schutz
Die Versprechen im Nachgang der «Trinkwasserinitiative» von 2021, künftig weniger schädliche Pestizide einsetzen zu wollen, drohten mehr und mehr vergessen zu gehen, so Maurer.
Was ihn an der Totalrevision am meisten stört: «Sie bringt nicht nur keinerlei Verbesserungen beim Schutz der Biodiversität und der Wasserressourcen, sondern eine zusätzliche Gefährdung.»
Die Befürchtung von WWF, Pro Natura und Trinkwasserverband: Lukrativ sind jene Mittel, die möglichst wirkungsvoll sind. Und diese sind oft besonders giftig. Wenn die Schweiz Pflanzenschutzmittel automatisch genehmige, die beispielsweise in Ungarn aufgrund dürftiger Prüfungen oder fragwürdiger Gerichtsentscheide zugelassen wurden, laufe sie Gefahr, zum Sammelbecken für Problempestizide zu werden.
Über 700 Gesuche hängig
Er hätte sich von der neuen Verordnung gewünscht, dass diese etwa auch die Risiken bei Entwässerungssystemen berücksichtigt. Die Totalrevision, so Maurer, ziele vor allem darauf ab, die Verfahren zu «vereinfachen» und die Zulassungsstelle zu entlasten.
Tatsächlich staut es bei der Zulassungsstelle für Pflanzenschutzmittel. 771 Gesuche sind aktuell hängig, wie Sarah Camenisch, Sprecherin des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit (BLV) sagt. Mit sechs zusätzlichen Vollzeitstellen soll der Gesuchsstau bewältigt werden. Um diese Stellen zu finanzieren, schlägt der Bundesrat vor, die Zulassungsgebühren für Pestizide zu erhöhen.
Die Gebühren erhöhen: Für die Umweltverbände ist es eine überfällige Massnahme, mit welcher die Hersteller und Händler von Pflanzenschutzmitteln zur Kasse gebeten werden. Für den Bauernverband ist es ein unnötiges, bürokratisches Aufbauschen. Und die Agrochemie – Industriegruppe Agrar und Science Industries – bezeichnet die Erhöhung als «überrissen» und «kontraproduktiv».
Bauern wünschen vollständige Harmonisierung mit EU
Für David Brugger, Leiter Pflanzenbau beim Schweizer Bauernverband, stimmt die Stossrichtung der Totalrevision nicht. «Unser System ist auf eine Ungleichbehandlung mit der EU ausgelegt», sagt er. Fachlich gäbe es keinen Grund, in EU-Ländern zugelassene Pflanzenschutzmittel nicht auch automatisch in der Schweiz zu genehmigen, sagt Brugger. «Damit hätten wir schneller modernere Wirkstoffe.»
Für die Landwirtschaft sei dies dringend nötig. Denn Schädlinge wie der Drahtwurm, der die Kartoffelproduktion gefährde, könnten heute nicht bekämpft werden. «Uns fehlen immer mehr Mittel, um die Kulturen zu schützen», sagt Brugger.
Um die Gesundheit der Böden macht sich Brugger keine Sorgen. Er verweist auf den Aktionsplan, der den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln mit hohem Risikopotenzial reduzieren soll. Ausserdem würden kritische Wirkstoffe heute bereits verboten. Doch Auflagen für den Umweltschutz und diese Verordnung, die zur Produktivität der Landwirtschaft beitragen soll, sind für ihn zwei verschiedene Dinge.
Das Parlament will mitreden
Statt der vorliegenden Totalrevision bevorzugt der Bauernverband zwei Vorstösse im Parlament von 2021 und 2022, beide eingereicht von Mitte-Nationalrat Philipp Matthias Bregy. Sie wollen den bürokratischen Aufwand der Zulassungsbehörden reduzieren. Der Bauernverband glaubt, dass damit der Zulassungsstau wegfiele. Der Bundesrat hingegen will bei der Verordnung bleiben. Sie lässt ihm eine Hintertür dafür offen, Wirkstoffe zu verbieten, wenn diese beispielsweise den Gewässerschutz gefährden.
Das Parlament will das nicht stehen lassen. Bei der Verordnung kann es nicht mitreden. Das will es aber. Daher überwies es einen Vorstoss Bregys und stellt eine klare Forderung an den Bundesrat: Er soll einen Gesetzesentwurf zur Anerkennung der EU-Zulassungsentscheide für Pflanzenschutzmittel ausarbeiten.