Möglicherweise hat eine Alge zum Fischsterben in der Oder geführt
1. Was ist passiert?
Die ersten toten Fische wurden Ende Juli südöstlich der polnischen Stadt Worclaw (Breslau) aus der Oder gefischt. Seither ist die Zahl der auf rätselhafte Weise verendeten Tiere auf Zehntausende gestiegen. Bald schon begann das Fischsterben flussaufwärts auch auf deutscher Seite. Anfang August berichtete die deutsche Seite von einem Massenfischsterben in der Oder. Die polnischen Behörden haben die deutschen Kolleginnen und Kollegen mit sechs Tagen Verzögerung über das Fischsterben in der Oder informiert, was bis heute zu Unstimmigkeiten zwischen den beiden Ländern führt. Helferinnen und Helfer haben in wenigen Tagen über 100 Tonnen toter Fische – Karpfen, Hechte, Zandern – aus der Oder gefischt.
2. Was ist die Ursache?
Das ist das Unheimliche an der Geschichte – warum die Tiere massenhaft verenden, ist unklar. Ebenso, was mit anderen Flussbewohnern wie Pflanzen, Krebse und Mikroorganismen geschehen ist. Fest steht einzig: Das Fischsterben hat auf polnischer Seite seinen Anfang genommen, eine mögliche giftige Substanz hat sich flussaufwärts ausgebreitet bis nach Deutschland und bahnt sich seinen Weg weiter durch den Fluss mutmasslich bis zur Ostsee im hohen Norden. Die nahe liegende Theorie eines Chemieunfalls liess sich bislang nicht erhärten. Die für Tiere giftigen Schwermetallverbindungen wie Quecksilber haben sich in der Oder nicht nachweisen lassen. Brandenburgs Ministerpräsident ist ratlos:
«Wir wissen bis jetzt nicht, was genau diese Vergiftungserscheinungen bei den Fischen verursacht hat.»
Die polnischen Behörden haben die Rekordsumme von 1 Million Zloty (etwa 215000 Euro) als Belohnung ausgesetzt, um über Hinweisgeber an die Verursacher der Katastrophe zu gelangen.
3. Was ist die wahrscheinlichste Theorie
Nach Tagen des Rätselns hat sich an diesem Donnerstag ein erster Hinweis ergeben, was das Fischsterben zumindest mitverursacht haben könnte: Möglicherweise hat eine giftige Algenblüte zum Fischsterben geführt. Zu dieser Erkenntnis kommt eine Laboruntersuchung des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB). Es handelt sich laut den Forschern bei der Mikroalge um die «Prymnesium parvum». Möglicherweise hat die Alge jene Giftstoffe in die Oder abgesetzt, welche die Tiere verenden liessen. Diese Algenart ist für die Region um die Oder ungewöhnlich, da sie sich im Brackwasser ausbreitet. Dieses entsteht typischerweise an Flussmündungen, wo sich Süss- und Salzwasser vermischen. Die Algenart kann im salzhaltigen Wasser gut gedeihen. Das würde zu den bisherigen Erkenntnissen passen. Seit Tagen messen Forscher einen ungewöhnlich hohen Salzgehalt in der Oder, ph-Wert und Sauerstoffgehalt stiegen ebenfalls sprunghaft an. In der Oder herrschten zuletzt ideale Bedingungen für die Giftalge, sagt der Leibniz-Biologe Jan Köhler gegenüber der «Zeit»:
«Hohe Salzgehalte, warmes Wasser, langsame Fliessgeschwindigkeiten im Fluss und viele Nährstoffe wie Stickstoff- und Phosphorverbindungen können das Wachstum solcher Mikroalgen beschleunigen.»
4. Aber was erklärt den hohen Salzgehalt?
Hier kommt die Theorie eines Chemieunfalls ins Spiel. Die polnischen Behörden haben den Bergbau-Konzern KGHM in der Stadt Glogau in der Nähe von Wroclaw unter Verdacht. Dieses könnte grosse Mengen Salzwasser in die Oder abgepumpt haben. Auch eine polnische Papierfabrik wird als möglicher Verursacher in Betracht gezogen. Das Unternehmen verwendet zum Bleichen von Recyclingpapier Chlor, das möglicherweise in die Oder geflossen ist. Durch die warmen Temperaturen begünstigt konnte sich möglicherweise die giftige Alge in der Oder bilden.
5. Besteht eine Gefahr für Menschen?
Die Alge selbst ist für die Menschen ungefährlich. Dennoch warnen die Behörden mehrerer Landkreise vor Kontakt mit dem Oder-Wasser. Von einer Abkühlung in dem Fluss wird abgeraten, auch sollen Haustiere nicht aus der Oder trinken. Das Oder-Wasser sollte zudem nicht zur Bewässerung von Pflanzen benutzt werden. Oder-Fische dürfen derzeit nicht zum Verkauf oder in Restaurants angeboten werden.