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Britannien bizarr – wenn Lord Kübelkopf und Graf Eimergesicht kandidieren

Deutschland hat ihre Anarchistische Pogo-Partei, die Schweiz die Anti-Powerpoint-Partei und Grossbritannien? «Interessante» Kandidaten haben dort sogar Tradition.

Am 4. Juli wird in Grossbritannien gewählt. Neu zu bestimmen sind die 650 Abgeordneten des Unterhauses – und damit die neue Regierung und der Premierminister (die Partei mit den meisten Sitzen stellt die Regierung und der Parteiführer jener Partei wird Premierminister).

Beim Durchgehen der Kandidaten auf dem Wahlzettel des Wahlkreises von diesem Autor (ja, Auslandsbriten dürfen wählen) fielen sofort zwei Sachen auf: Erstens ist die Auswahl an Kandidaten viel grösser als erwartet …

… und zweitens ist jene nobelste aller grossartigen britischen Tugenden, die der Exzentrik, nämlich, quicklebendig:


Bild: obi

Willkommen, also, in der bunten Welt der Randkandidaten der britischen Politik! Jener (selbst ernannter) Emperor of India, etwa? Gestatten,Ankit Love, Konzeptkünstler, Umweltaktivist und Parteichef derOne Love Party:


Bild: Prince Ankit Love

2016 kandidierte er als jüngster Kandidat für das Amt des Bürgermeisters von London. Sein Hauptthema: Luftverschmutzung – und radikale politische Massnahmen, um diese zu bekämpfen.

Doch nebst dem ökologisch gesinnten Quasi-Kaiser gibt es seit jeher eine ganze Reihe weiterer bunter Individuen, die kandidieren. Gerne lassen sich diese in Gemeinden aufstellen, in denen prominente Politiker um ihren Sitz kämpfen – was mitunter unterhaltsame Pressebilder wie das hier ergibt:

Boris Johnson mit Elmo und Lord Buckethead.
Bild: BBC

Wie es die Tradition will, werden bei britischen Parlamentswahlen die Abstimmungsresultate jedes Wahlkreises live bekannt gegeben – und in Anwesenheit aller Kandidaten. Und so kann es passieren, dass der amtierende Premierminister des Vereinigten Königreichs von Grossbritannien und Nordirlands vor die Weltpresse treten muss, flankiert von Elmo aus der Sesamstrasse und einem intergalaktischen Superschurken mit einer Mülltonne auf dem Kopf.

Solche Gestalten zieren die britische politische Landschaft seit langer Zeit. Urvater und einer der bekanntesten solcher Polit-Exzentriker warScreaming Lord Sutch. Hauptberuflich war David Sutch (der Lord-Titel war selbstredend selbst erfunden) Rock’n’Roll-Musiker.

Jahrzehnte vor Alice Cooper oder Marilyn Manson war er Pionier des Horror-Rock-Genres (wobei er etliche seiner Ideen dem amerikanischen Blues-SängerScreamin’ Jay Hawkinsabguckte – inklusive des Namens-Attributs). Doch bereits ab 1963 kandidierte er wiederholt in verschiedensten Wahlkreisen, zunächst als Vertreter der National Teenager Party, später als Parteivorsitz seinerOfficial Monster Raving Loony Party(etwa«offizielle Monster-Super-Spinner-Partei»). Dies tat er ganze 39 Mal bis zu seinem Tod im Jahr 1999 und stets gänzlich erfolglos – was laut «Guinness-Buch der Rekorde» einen Weltrekord darstellt.


Bild: Keystone

Doch obwohl er nie einen Unterhaussitz gewann, hat Sutch eine beneidenswerte Bilanz vorzuweisen, wenn es darum geht, dass seine Politik vom Establishment angenommen wird. Als der junge Sutch in den frühen Sechzigerjahren zum ersten Mal antrat, umfasste sein Wahlprogramm die Senkung des Wahlalters von 21 auf 18 Jahre, die Einführung eines kommerziellen Radioangebots und die Umwandlung der WestlondonerCarnaby Streetin eine Fussgängerzone. Alle diese Massnahmen wurden innerhalb eines Jahrzehnts, nachdem Sutch sie propagiert hatte, umgesetzt. Sutch setzte sich auch als Erster für die Einführung der ganztägigen Öffnung von Pubs ein, für 24-Stunden-Lizenzen für Familienbetriebe und die Einführung von Heimtierausweisen. All dies wurde umgesetzt, obwohl Sutch nie den Hauch einer Chance hatte, gewählt zu werden. Womit bewiesen wäre: Exzentrische Randfiguren können wesentlich zum Fortschritt beitragen.

(Sutchs Vorschlag, Hundefutter mit Zusatzstoffen zu versetzen, um Hundehaufen nachts zum Leuchten zu bringen, fand jedoch nie viel Anklang.)

Heute noch existiert die Official Monster Raving Loony Party und weiterhin stellt sie Kandidaten in diversen Wahlbezirken. Diese heissenAlan «Howlin’ Laud» Hope(im Bild oben, in Weiss), The Flying Brick oder Hairy Knorm Davidson. In der Vergangenheit trat auch schonTarquin Fin-tim-lin-bin-whin-bim-lim-bus-stop-F’tang-F’tang-Olé-Biscuitbarrelan (dessen Name sich auf einen Sketch von«Monty Python’s Flying Circus»bezieht – ein Sketch, der ebendiese Loony Party parodiert. So schliesst sich der Kreis).

Ebenfalls für die Loony Party tritt aktuell auch Lord Buckethead an.


Bild: Keystone

Dieser laut Eigenbekunden «intergalaktische Weltraumherrscher» (sein Name und Kostüm entstammen der Science-Fiction-Kultkomödie«Hyperspace»von 1984) kandidierte bereits viermal in den UK General Elections: 1987 gegen Margaret Thatcher, 1992 gegen John Major, 2017 gegen Theresa May und erneut 2019 gegen Boris Johnson.

In seinem Wahlmanifest von 2017 versprach Lord Buckethead eine «strong, but not entirely stable leadership» – dies als Alternative zu Premierministerin Theresa MaysWahlslogan, einer «starken und stabilen Führung» («strong and stable leadership»).

Des Weiteren umfassen seine Vorhaben unter anderem die Abschaffung desHouse of Lords(«mit Ausnahme von Lord Buckethead»), kostenlose Fahrräder für alle «zur Bekämpfung von Fettleibigkeit, Verkehrsstaus und Fahrraddiebstahl», Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre und Einschränkung des Wahlrechts ab dem 80. Lebensjahr, ein Referendum darüber, ob es ein weiteres Brexit-Referendum geben soll oder nicht, Legalisierung der Jagd auf Fuchsjäger, die Verstaatlichung der PopsängerinAdele, die Verbannung der rechtsgerichteten KolumnistinKatie Hopkinsin die Paralleldimension«The Phantom Zone»oder die Einstellung der Waffenverkäufe an Saudi-Arabien (damit Grossbritannien Laserwaffen von Lord Buckethead kaufen kann).

Viele von Lord Bucketheads Programmpunkte decken sich mit denen vonCount Binface(dies nicht zuletzt, weil der aktuelle Binface-Darsteller Jonathan Harvey sich früher hinter der Maske von Lord Buckethead verbarg).


Bild: Keystone

«Graf Eimergesicht», nun, der zur Unterhauswahl 2019 antrat sowie zweimal als Bürgermeister von London kandidierte, setzt sich zudem für die Verstaatlichung von Modelleisenbahnen ein, für kostenlosen Breitbandzugang für alle sowie dafür, dassPiers Morganbis 2030 emissionsfrei wird. Ausserdem propagiert er die Umbenennung derLondon BridgeinPhoebe Waller-Bridgesowie die «Umplatzierung des Händetrockners in der Herrentoilette des Pubs Crown and Treaty in Uxbridge an eine gescheitere Position».

Als Londoner Bürgermeisterwahlkandidat 2024 trat er für den Beitritt Londons zur Europäischen Union ein und für ein Verbot der Freisprechfunktion von Mobiltelefonen in der Öffentlichkeit (wer erwischt wird, muss sich ein Jahr lang jeden Tag die Verfilmung von «Cats» ansehen). Mit 24’260 Wahlstimmen lag Count Binface noch vor dem Kandidaten der Rechtsaussen-ParteiBritain First, was BürgermeisterSadiq Khanals «weiteren Grund, London über alles zu lieben» nannte.

Aktuell kandidiert Count Binface imWahlkreis Richmond and Northallertongegen – jap, richtig geraten! – PremierministerRishi Sunak. Unter anderem mit dem nicht komplett unpopulären Politvorhaben, alle Ministergehälter für die nächsten 100 Jahre an die Gehälter von Krankenpflegern zu koppeln. Und, ach ja, dafür, dass «laute Snacks aus Theatern verbannt» werden.

Während jeder dieser Kandidaten ein eigenständiges politisches Programm hat oder hatte, dienen sie rein durch ihre Existenz jener altehrwürdigen, noblen Tradition der Herabwürdigung und des Spottes selbstherrlicher Personen – ein schelmischer Reminder an das Establishment, wer in einer Demokratie wirklich das Sagen hat. Diese Haltung ist tief verankert in der Tradition Grossbritanniens; eines Landes, das sich einerseits weiterhin eine Monarchie leistet, andererseits sich selbstredend das Recht ausnimmt, ebendiese nach Belieben durch den Kakao zu ziehen. Analog verhält es sich mit der britischen Haltung gegenüber ihrem rigiden Klassensystem, gegenüber Machtpositionen oder Traditionen im Allgemeinen.

Oftmals ist eben Auslachen eine stärkere politische Waffe als rohe Gewalt. Aktuelles Beispiel: die AktionsgruppeLed By Donkeys, die während einer Wahlkampfrede des Rechtsextremisten Nigel Farage ein Poster von Putin enthüllte.

Grossartiges Trollen. Grossartige Comedy. Aber auch ein knallharter Kommentar und ein unangenehmer Reminder an Nigel, dass er Putin als «den europäischen Politiker, den ich am meisten bewundere» bezeichnet.

Spoiler: Nein, dieser Autor gab Prince Ankit Love Emperor of India nicht meine Stimme. Aber versucht war ich. Denn ja, Sadiq, es ist ein weiterer Grund, Grossbritannien zu lieben.