Kim de l’Horizon sagt nach dem Buchpreisgewinn: «Meine Literatur ist eine heilsame Hexensuppe»
Beinahe hätte man den Paradiesvogel der Gegenwartsliteratur übersehen. Aber da sitzt Kim de l’Horizon lächelnd hinter dem Tisch am Stand des Dumont-Verlags. Unter dem blauen Pulli lugt der Kragen eines Leopardenhemds hervor. Nur die roten Lippen und die rot lackierten Fingernägel leuchten und signalisieren: Kim de l’Horizon ist an der Buchmesse in Frankfurt nicht nur wegen des Buchpreisgewinns begehrt. Deutlich schriller war der Auftritt am Montag Abend bei der Preisverleihung. Der Stand wird denn auch belagert von handybewehrten Passantinnen. Dumont-Presseleiterin Marie Claire Lukas muss gar ein Absperrband ziehen.
Zwei Stunden Schlaf und 16 Interviews
Vor unserem Gespräch hatte de l’Horizon bereits 15 Interviews, auf zwei Tage verteilt. Wie ist das so für eine junge Person? Die Antwort kommt mit sanftem, fröhlichem Berndeutsch: «Sehr schön, aber auch schwierig.» Und schmunzelnd: «Ich muss permanent gescheite Sachen sagen». Das fällt der sehr reflektierten Autorperson leicht. Trotz anstrengendem Interview-Marathon wirkt de l’Horizon ausgesprochen ruhig, freundlich und konzentriert – auch nach nur zwei Stunden Schlaf in der Nacht zuvor:
«Ich habe schliesslich lebenslang lernen müssen, immer die Kontrolle zu behalten darüber, wie ich nach aussen wirke.»
Was das bedeuten könnte, schilderte Horizon kürzlich in der «NZZ». Am 30. September sei er/sie frühmorgens in einer Berliner U-Bahn-Station von einem Unbekannten ins Gesicht geschlagen worden. «Ich trug Jeans, Pulli und etwas Lippenstift. Ich fühlte mich schön, nicht zu schön … Der Mann sagte: ‹Normale Schwuchteln kann ich mittlerweile schlucken, aber du bist mir einfach zu viel.›» Dass gleichentags Bundesrat Ueli Maurer sagte, er wolle lieber kein «Es» als Nachfolger haben, sei ein weiterer Tiefschlag gewesen.
Berufsbezeichnung, nonbinär: «Autorj»
Die Fassung nicht verlieren, das ist für Horizon auch bei der ewigen Fragerei wichtig, wie er/sie als nonbinäre Person angesprochen werden möchte. «Indem Sie meinen Namen sagen, also Guten Tag, Kim de l’Horizon. Bei Emails können Sie nach ‹Lieb› ein Sternchen zwischen e und r setzen.» Tönt einfach. Und bei der Berufsbezeichnung? «Ich schlage vor: Autorj. Ich glaube, es ist für alle ein Lernfeld, in dem es darum geht, sensibler miteinander umzugehen. Es ist eine Chance, einander besser zu verstehen und aufeinander zuzugehen, miteinander zu reden, mit Offenheit und Respekt.»
Einen konventionellen Roman darf man bei diesem Buch nicht erwarten. «Blutbuch» ist ein wild wuchernder Essay mit wunderbar poetischen Kindheitserinnerungen, harten Sexszenen, Exkursen in Frauenbiografien, Briefen und Selbstreflexion. Alle Ebenen aber fliessen in die fluide Geschlechtsidentität der Hauptfigur Kim ein. In ihr manifestiert sich sowohl gesellschaftliche Zuschreibungen des Männlichen wie auch die dominante Grossmutter und Mutter mit ihrer unsicheren Geschlechtsidentität. Tiefgründig und aktuell. (hak)
Annie Ernaux‘ soziologische Literatur als Inspiration
In früheren Horizon-Texten in Literaturmagazinen findet man aufschlussreiche Sätze: «Eigentlich schreibe ich über Scham und über mich. Wenn man über sich und über Gefühle schreibt, schreibt man automatisch über Klasse.» Das liest sich wie das literarische Programm anderer autofiktionaler Autorinnen und Autoren, etwa wie ein Satz der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux oder des französischen Literaturstars Edouard Louis. Horizon schreibt zwar nicht so karg und hart wie diese beiden, sondern poetischer, ja streckenweise märchenhaft.
Aber die Verwandtschaft ist doch augenfällig. Ein literarischer Fixpunkt auch für de l’Horizon? «Auf jeden Fall. Die soziologische Literatur ist eine wichtige Inspiration, die sich auch in meinem Roman eingliedert. Aber ich glaube nicht an reine Formen. Ich suche Vielgestaltigkeit. Der harte, soziologische Blick schränkt mich literarisch zu sehr ein. Annie Ernaux benutzt in ihren Büchern ja keine einzige Metapher. Und in meinem Buch geht es nicht nur um das familiäre Erbe, sondern auch um die Reflexion der literarischen Formen.»
Man könnte deshalb «Blutbuch» auch als wild wuchernden Essay bezeichnen, oder wie es im Buch selbst mal heisst, als «Ringel Ringel Reihe Text», mit Exkursen in historische Frauenbiografien, in die Baumgeschichte.
Ein Roman wie ein Hexenkessel – mit einem heilsamen Hexentrank
Humor also gibt es sowohl in «Blutbuch» wie auch im Gespräch mit Kim de l’Horizon, der lächelnd sagt:
«Mein Roman baut eine Art Hexenkessel auf, in dem alle diese Themen zusammen köcheln und daraus eine heilsame Hexensuppe entsteht.»
Was lernt man im Studium der Hexerei bei US-Autorin Literatur als Heiltrank also? De l’Horizon macht gerade eine hexische Weiterbildung bei der feministischen US-Autorin Starhawk. Was lernt er dort? «Machtzusammenhänge anzuschauen, aber nicht akademisch, sondern praktisch», sagt de l’Horizon. «Zum Beispiel entwickle ich Rituale, beim abnehmenden Mond Dinge loszulassen, Aufräumen, Kleider weggeben.» Das sei keine psychologische Selbstverbesserung, sondern es gehe darum, «die Scheisse aufzuräumen, die man so mitbekommen hat.»
Was soll man eigentlich unter «nonbinär» verstehen?
Erst vor elf Monaten bekam de l’Horizon den Vertrag bei Dumont. «Vorher dachte ich, dieses Buch werde höchstens in einem kleinen, experimentellen Verlag erscheinen können.» Das Buch sei zu freakig? «Ja, in etlichen Absagen hiess es, das Buch sei zu gewagt.» Nonbinär, was heisst das für de l’Horizon? Was soll man eigentlich unter nonbinär verstehen?
Es ist ja weder bisexuell noch trans. «Trans ist, wenn man sich mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht nicht identifizieren kann. Dann gibt es aber Transmänner und Transfrauen, die als nonbinäre Menschen wahrgenommen werden wollen. Geschlecht gibt es ja als äussere Performance, die wir alle machen, und es gibt ein inneres Gefühl. Das ist der Unterschied zwischen Nonbinarität und Drag. Drag ist eine Kunstform, die jede Identität performen kann, ohne dass man sagen muss, dass man sich als Frau oder Mann fühlt.» Kim de l’Horizon ergänzt:
«Nonbinär ist ein inneres Gefühl, dass man Mann und Frau ist, beides mal mehr, mal weniger.»
Der fast abwesende Vater – Grossmutter und Mutter als gespaltene Figuren
Auffällig in «Blutbuch» ist, dass die Hauptfigur viel über die Mutter und noch mehr über die Grossmutter, aber wenig über den Vater redet. Dieser hockt zwar als Mann breitbeinig vor der Sportschau im Fernsehen, ist aber fein, sensibel, kann sich zurücknehmen und über Gefühle sprechen. Er verbindet somit klassisch männliche und feminine Eigenschaften. Warum gelingt es der Erzählerfigur in «Blutbuch» nicht, ihn als positives Vorbild zu nehmen? De l’Horizon: «Das ist eine sehr gute Frage. Eigentlich müssten Sie die Figur fragen. Ich glaube aber, ich würde das lieber der Interpretation der Lesenden überlassen.»
Hängt es nicht damit zusammen, dass die Romanfigur tragischerweise den inneren Konflikt der Mutter und der Grossmutter weiterträgt? Beide haderten schon mit ihrer Geschlechteridentität. Die Grossmutter hatte zu viel Testosteron, das sie mit Medikamenten bekämpfte und ging während ihrer Ehe auch mal eine lesbische Affäre ein. Die Mutter wollte auch lieber ein Mann sein, um sich besser durchsetzen zu können. Beide waren dominant, kalt, herrisch. Das ergibt wohl eine intensivere, zerreissendere Dynamik wie der mit sich wohl eher zufriedene, bescheidene Vater. De l’Horizon lacht: «Vielleicht, ja, aber ich sage dazu nichts.»
De l’Horizon verteidigt die Iran-Geste in der Preisrede
In den letzten Tagen ist de l’Horizons Solidaritätsgeste für die iranischen Frauen während der Dankesrede am Montagabend als anmassend kritisiert worden. Er habe damit seine eigene Geschlechterthematik mit dem lebensgefährlichen Kampf der Protestierenden im Iran gleichgesetzt. Wenn man sich jedoch die Anfeindungen, ja physische Gewalt vergegenwärtigt, denen de l’Horizon schon ausgesetzt war, wird seine Solidaritätsaktion verständlicher.
Er hatte sich am Rednerpult mit einem Elektrorasierer das Kopfhaar rasiert. «Ich stehe dazu, sage jedoch nicht, dass es mir genau gleich geht wie diesen Frauen. Aber ich wollte mich mit ihrem existenziellen Kampf solidarisieren. Dass ich diesen Preis bekommen würde, hatte ich nicht erwartet. Für die Eventualität wollte ich die grosse Aufmerksamkeit nutzen, um ein starkes Statement zu machen, damit die westlichen Regierungen entschiedener gegen das iranische Regime vorgehen.»
Sex hat die Romanfigur Kim immer mit Männern
Wenn man «Blutbuch» liest, könnte man auch simpel denken: Diese Erzählerfigur Kim sei ein devoter Homosexueller, also eine recht bekannte literarische Figur. «Homosexualität gibt es nur, wenn man an zwei Geschlechter glaubt. Weil sich meine Figur nonbinär fühlt, kann sie logischerweise gar nicht homosexuell sein.»
Aber Sex hat die Figur immer mit Männern. «Ja, ich wollte zeigen, dass die Figur blinde Flecken hat. Zum Beispiel hat dieser Kim auch mal rassistische Impulse gegen Autoposer. Mir ging es in diesem Buch aber auch darum, die schwule Community und den dortigen Sex literarisch zu verarbeiten. Meine Romanfigur ist darin ein Stück weit gefangen und kann das auch nicht ganz überwinden, sondern höchstens bemerken und reflektieren.» Und: «Im Vererbten schwingt vieles mit: der Sex, die grobe Männlichkeit und auch der internalisierte Rassismus.»