«Zirkus muss das Verstörende ins Zentrum stellen»: Der Künstler Johann Le Guillerm über seine Werke am cirqu’-Festival
Er schlendert gemächlich auf den Wegen des Aarauer Kasinoparks. Ältere Damen trinken Kaffee auf der Starbucks-Terrasse, Kinder spielen auf der Wiese. Ein Vater liegt im Schatten eines Baumes, ein schlafender Säugling in den Armen. Mit seiner hohen, schlanken Figur, die ohne Eile geht, seinem einzigen grauen Zopf und seinen hellen Augen wirkt Johann Le Guillerm wie fremd in dieser so alltäglichen Szenerie. Als schwebe er darüber.
Das heisst jedoch nicht, dass er von ihr abgehoben ist: Der Künstler beobachtet die Welt mit der akribischen Genauigkeit eines Forschers. Als wäre sie ein einziges Experiment und er müsse sie aus allen Blickpunkten beobachten, um sie verstehen zu können.
Das ist das grosse Ziel des Künstlers, der in Frankreich längst zu einer bekannten Persönlichkeit herangewachsen ist. Er kommt aus der Zirkuswelt und gehörte zu den ersten Jahrgängen der nationalen Zirkusschule, die er in den 90er -Jahren besuchte.
Transumantes oder die ständige Bewegung
Mit seinen Installationen wie die Transumantes – die vergangenen Samstag im Kasinopark vorgestellt wurde – erforscht er das Unscheinbare, das Unwichtige. Die 150 Holzlatten, die zu einer sich ständig verändernden Skulptur zusammengebaut werden, hinterfragen das Konzept des Gleichgewichtes. Denn die Latten werden nur vom Druck aufeinander gehalten. So ist die Struktur stabil und zerbrechlich zugleich, in ständiger Bewegung, und ist das Leben nicht eine einzige, zerbrechliche Bewegung?
«Welches Rätsel steckt hinter diesem Gleichgewicht?», fragt Johann Le Guillerm mit diesem Kunstwerk. «Wie flüchtig ist die Existenz?», könnte man sich auch fragen. Die Struktur, die sich wie eine Welle bewegt, lädt das Publikum ein, stets mitzugehen, als wäre Stillstand der Tod.
Dass die Installationen von verschiedenen Blickwinkeln beobachtet werden können, ist für Le Guillerm zentral. Das ist die Definition des Zirkus sondergleichen: Ein Publikum umringt die Zirkusmanege und je nach Blickpunkt verändert sich die Erfahrung des Zuschauers. Und mit Zirkuswerke will Le Guillerm anstossen, verstören. «Zirkus ist ein Raum, der Minderheitenpraktiken gewidmet ist», sagt Le Guillerm in seiner ruhigen Stimme.
«Wir haben im Zirkus alles ausgenutzt, was anziehend ist: Die Schwerkraft, das Sensationelle, das Beängstigende.» Zirkus ist für ihn organisierter Voyeurismus, man zeigt das Aussergewöhnliche, auch die Monstrosität – man erinnere sich an die «freak shows des frühen 20. Jahrhundert, in welcher Zwerge und verstümmelte Menschen gezeigt wurden. Man zeigt das, was niemand kann, niemand tut.
Das Verstörende organisieren
Während seiner ganzen Karriere hat Johann Le Guillerm stets das getan, was niemand tut. Bei einem seiner ersten Auftritte realisierte er Bewegungen nackt, in einer Mischung aus Clownakten und Akrobatie. Er war Mitglied einer Zirkuscrew in Lederjacken, die in spektakulären Shows die Grenze der Zirkustraditionen ausreizten.
In seinen zahlreichen Soloauftritten hat er sich eine eigene Bildsprache erarbeitet, bestehend aus träumerischen Maschinen, die so «nutzlos» wie jene von Jean Tinguely und so abstrakt wie Geometrieformen von Wassily Kandinsky sind. «Architekt seiner Träume» titelte die Westschweizer Zeitung «Le Temps» bei seinem letzten Besuch in die Schweiz im Lausanner Theater Vidy.
Irgendwo zwischen Traum und Chaos will er dem Publikum Fragen stellen. Die Antworten überlässt er ihm – denn jeder neue Blickpunkt erklärt die Welt ein bisschen mehr. Ob das nicht eine etwas abgehobene, intellektuell gesuchte Übung ist? fragen wir ihm.
Er widerspricht. «Man braucht nicht nachzudenken. Das Verstörende ist nicht intellektuell. Ich bringe neue Orientierungspunkte, und jeder Zuschauer fasst es anders auf, weil er es noch nie zuvor gesehen hat. Das gilt für den Intellektuellen, für das Kind, für jemanden aus einer anderen Kultur.»
Neue Orientierungspunkte beim cirqu‘-Festival
Diese neuen Orientierungspunkte hat er mit vier Installationen und Attraktionen beim cirqu‘-Festival in Aarau mitgenommen. Im Stadtmuseum steht zum Beispiel ein grosses Rad, das sich fast unmerklich auf einem Sandboden bewegt. Angetrieben wird sie durch Wasser, die abtropft und Holzlatten befeuchtet. Dadurch biegen sie sich leicht, sodass sie das Rad vorantreiben. Unglaublich langsam, aber unaufhaltsam. Wie ein Baum, den man nicht wachsen sieht und sich doch jede Sekunde verändert, oder ein Kind, der erwachsen wird.
Mit dem Sternekoch Alexandre Gauthier bietet er ausserdem eine kulinarische, künstlerische Erfahrung. «Man isst Konzepte und Nahrung, die einen mit dem Hirn, das andere mit dem Magen.»
Ob es denn schwierig ist, Dinge zu finden, die noch nie jemanden gemacht hat?, fragen wir Johann Le Guillerm. «Eigentlich nicht. Bis jetzt habe ich noch immer was gefunden».