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«Antisemitismus ist das Kernproblem»: Marianne Binder wird für ihr politisches Engagement geehrt

Mit dem Fischhof-Preis werden alle zwei Jahre Persönlichkeiten für ihre Leistungen gegen Rassismus und Antisemitismus ausgezeichnet. Heute kommt die Ehre der Aargauer Mitte-Ständerätin Marianne Binder zuteil. Was die Badenerin mit dem Preisgeld vorhat.

Nach der Messerattacke auf einen orthodoxen Juden im März dieses Jahres in Zürich sagte die Aargauer Ständerätin: «Als Jüdin müsste ich jetzt Angst haben, auf die Strasse zu gehen.» Marianne Binder-Keller zeigte sich schockiert: «Keine 80 Jahre nach dem Krieg müssen jüdische Menschen wieder um ihr Leben fürchten.» Den Antisemitismus müsse man endlich ernst nehmen, so die 66-jährige Politikerin. Nach wie vor sieht die Katholikin erheblichen Handlungsbedarf – auch in der Schweiz.

Schon ihre Grossmutter nahm als Wirtin im Badener Hotel Rosenlaube jüdische Kriegsflüchtlinge als Pensionäre auf. Damit diese in der Schweiz bleiben konnten, musste die Wirtin alle drei Monate dafür bürgen, dass sie mit ihnen verwandt ist. Binders Mutter, dieSchriftstellerin Rosemarie Keller, wuchs in der «Rosenlaube» auf. Im 1996 erschienenen Familien- und Gesellschaftsroman «Die Wirtin» beschreibt die Autorin eine 30-jährige Zeitspanne, die kurz vor dem Zweiten Weltkrieg begann.

Die Aufarbeitung der Kriegsjahre hat auch Marianne Binder stark geprägt. Für ihr jahrelanges politisches Engagement gegen Antisemitismus und zum Wohl der jüdischen Gemeinschaft erhält sie am 18. November in Zürich den Fischhof-Preis 2024.Das Verbot von Nazi-Symbolen wie Hakenkreuz und Hitlergruss im öffentlichen Raum, das der Nationalrat im Mai 2023 gegen den Willen des Bundesrats guthiess, ging auf Binders Forderung von 2021 zurück. Die Verherrlichung des Dritten Reichs mit seinen unermesslichen Verbrechen solle in der Schweiz keinen Raum haben, lautet ihre Begründung.

Bundesrat stellt für 2025 eine Strategie in Aussicht

Der Ständerat hat ihr Anliegen im Dezember 2023 zugunsten eines umfassenderen Verbots von extremistischen Symbolen zu verzögern versucht. Inzwischen habe der Bundesrat jedoch klargemacht, dass er die Umsetzung des Verbots von nationalsozialistischen Symbolen prioritär an die Hand nehme, sagt Marianne Binder. Ziel erreicht. Im vergangenen Juni erkundigte sie sich per Interpellation nach evidenzbasierten Grundlagen für die Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus. Der Bundesrat verwies in seiner Antwort auf die bestehende Fachstelle für Rassismusbekämpfung und stellte für 2025 eine Strategie gegen Rassismus und Antisemitismus in Aussicht.

Vor knapp einem Jahr hat die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus Marianne Binder über die Preisvergabe informiert. «Ich habe mich schon sehr geehrt gefühlt», sagt sie. Am Mitte-Parteitag vom 23. Oktober in Baden durfte die Preisträgerin bereits einen Blumenstrauss entgegennehmen.

Ständerätin Marianne Binder erhält am Parteitag einen Blumenstrauss für ihr Engagement gegen Rassismus und Antisemitismus.
Bild: Severin Bigler (23. 10. 2024)

Der Fischhof-Preis wird alle zwei Jahre von der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus und von der Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz, unterstützt vom Sigi und Evi Feigel-Fonds, verliehen. Seit 1992 honoriert er Menschen, die sich ausserordentlich gegen Diskriminierung einsetzen, mit 50’000 Franken pro Ausgabe. Nanny Fischhof-Barth (1901–1997) stiftete den Preis im Andenken an ihren Ehegatten, der während des Zweiten Weltkriegs in die Schweiz flüchtete.

Binder teilt das Preisgeld mit Angelo Barrile undNicola Neider Ammann. Alt-SP-Nationalrat Barrile erhält den Fischhof-Preis 2024 für seinen Kampf um Gleichheit und Inklusion in der Gesellschaft. Er kämpfte dafür, dass die Rassismus-Strafnorm um die sexuelle Orientierung erweitert wurde. Neider Ammann wirkte an der Migrationscharta mit und engagiert sich als Präsidentin der Sans-Papiers-Beratungsstelle Luzern.

Aufklärung und Verbot als wichtige Zeichen

Mit dem Preisgeld will Binder Projekte unterstützen, welche der Aufklärung des Antisemitismus dienen und gegen die Geschichtsvergessenheit ankämpfen. So etwa die Gamaraal Foundation, welche Schulklassen finanziell ermöglicht, ein ehemaliges Konzentrationslager zu besuchen, oder das Museum Auschwitz, welches in den sozialen Medien jeden Tag Menschen porträtiert, die im Holocaust ums Leben gekommen sind. «Das geht unter die Haut und steht gegen die geballte Ignoranz und Faktenfreiheit, welche in den sozialen Medien halt anzutreffen ist. Wir müssen die Debatte wachhalten», so die Ständerätin.

«Der Antisemitismus ist das Kernproblem unserer Gesellschaft», sagt sie. Wenn er jetzt auf archaische Weise zurückkomme, müsse er mit Radikalität bekämpft werden. Die Fehler der Vergangenheit dürften sich nicht wiederholen. «Mit dem Verbot des Hitlergrusses und anderer Nazi-Symbole löst man zwar nicht alle Probleme, aber es ist ein wichtiges Zeichen», so Binder. Besonders in einem Rechtsstaat. Rhetorisch fragt sie: «Wer weiss, wie mutig wir alle in einer Diktatur wären?»

Autorin und Mutter Rosemarie Keller.
Bild: Alex Spichale

An die festliche Preisverleihung in Zürich, an der alt Bundesrat Moritz Leuenberger eine Ansprache halten wird, nimmt Marianne Binder unter anderem ihre Mutter Rosemarie Keller mit. Schliesslich hat sie der Tochter das Geschichtsverständnis mit auf den – politischen – Weg gegeben.