Ausgerechnet in Katar pfeifen erstmals Frauen WM-Spiele – zum Beispiel die Japanerin Yoshimi Yamashita, die Mensch und Roboter sein will
Bei der Frage, ob sie nervös sei, muss Yoshimi Yamashita lächeln. «Natürlich ist der Druck gross, und mir ist bewusst, dass ich eine grosse Verantwortung trage.» Dass dies ihre Leistung schmälern werde, glaubt sie aber nicht. Über ihre Aufgabe sei sie glücklich, und ihr Ziel sei es, «die Schönheit des Fussballs» zum Vorschein zu bringen, indem auch sie die Sache positiv angehe. Immerhin steht die 36-Jährige vor ihrem grössten Karrieresprung, wenn sie ab dem 20. November in Katar ihre Pfeife in den Mund nimmt.
Die WM in Katar wird nicht nur für Yoshimi Yamashita selbst ein historisches Ereignis. Die Japanerin wird in diesem Herbst neben zwei weiteren Frauen zu den ersten weiblichen Schiedsrichterinnen zählen, die je Spiele einer Fussballweltmeisterschaft der Männer geleitet haben. Die anderen beiden sind Salima Mukansanga aus Ruanda und Stéphanie Frappart aus Frankreich. Hinzu kommen noch drei Schiedsrichterassistentinnen: Neuza Back aus Brasilien, Karen Díaz aus Mexiko und Kathryn Nesbitt aus den USA.
In Katar werden die Schiedsrichterinnen im Scheinwerferlicht stehen
Dem höchst kontroversen Turnier in Katar verleihen diese sechs Frauen damit auch ein progressives Antlitz. In den meisten Ländern der Welt ist Fussball weiterhin oft als Männer- und Machosport verschrien. So auch im Gastgeberland Katar, das neben diversen Menschenrechtsverletzungen auch gegenüber Frauen in besonderem Mass diskriminiert. Das Weltwirtschaftsforum zählt Katar in seinem jährlichen Gender Gap Report zu den «am schlechtesten abschneidenden Ländern der Region». In Sachen politischer Beteiligung von Frauen landet Katar von 146 verglichenen Ländern auf Platz 143.
Dabei ist im Fussball, dem weltweit beliebtesten Sport, das Schiedsrichteramt eines mit gewissermassen hoher politischer Bedeutung. Denn indem der oder die Unparteiische darüber wacht, dass die Regeln eingehalten werden, sie in strittigen Situationen auch nach eigenem Urteil auslegt, steht sie unter ständiger Beobachtung eines oft latent feindlichen Publikums und aufgebrachter Spieler. Auf dem Fussballplatz ist die Person mit der Pfeife im Mund zwar die Autoritätsperson überhaupt. Sie muss diese Rolle aber auch in jeder Spielsituation aufs Neue behaupten.
Wenn auf der grössten Fussballbühne – der Weltmeisterschaft – nun einige Frauen diese Stellung einnehmen, dürfte genau hingesehen, jede Fehlentscheidung umso mehr diskutiert werden. Dabei sticht unter diesen drei Schiedsrichterinnen, die über die kommenden Wochen im Rampenlicht stehen werden, Yoshimi Yamashita besonders heraus. Die gebürtige Tokioterin kommt nämlich aus einem Land, in dem es besonders überraschend erscheint, wenn in irgendeiner gesellschaftlichen Sphäre eine Frau zur internationalen Pionierin wird.
In Japan werden Frauen nach wie vor diskriminiert …
Im Gender Gap Report der Weltwirtschaftsforums schneidet denn auch Japan immer wieder schlecht ab, landete im Jahr 2022 insgesamt auf Platz 116 von 146. Während Frauen zwar im Schnitt gleich gut ausgebildet sind wie Männer, bleiben sie vor allem auf dem Arbeitsmarkt und in der Politik benachteiligt. Traditionell werden Frauen auch von mehreren Berufen ausgeschlossen, etwa weil sie wegen Menstruationsblutungen als unrein gelten. Dies trifft auf den Beruf des Sushikochs zu.
Auch im Sport besteht Diskriminierung: Im jahrtausendealten Sumo ist Frauen der Zutritt zum Ring verboten. Im Vorfeld der Olympischen Spiele von Tokio im Sommer vergangenen Jahres fiel Yoshiro Mori, damals noch Vorsitzender des Organisationskomitees, durch sexistische Kommentare auf: Bei der Frage, ob es nicht mehr Geschlechtergleichstellung auch auf Funktionärsebene geben solle, sagte Mori, Frauen redeten so viel und hielten dadurch die Abläufe auf. Mori musste zurücktreten. Aber sein Spruch war bei weitem nicht der einzige sexistische Vorfall aus der japanischen Sportwelt.
… aber nicht im Fussball
Allerdings ist in Japan ausgerechnet Fussball eine der fortschrittlicheren Sportarten. Als sich in den 1990er-Jahren die J-League als Profiliga der Männer etablierte, wurde Fussball als frauen- und familienfreundliche Alternative zum männerdominierten Baseball beworben. Heute finden sich auf den Rängen japanischer Stadien auffallend viele Frauen. Mädchen- und Frauenfussball galt hier nie als unweiblich. Japan hat mittlerweile auch für Frauen eine Profiliga. Japans Frauenfussball ist weltweit führend, 2011 gewann Japan in Deutschland den Weltmeisterinnentitel.
Dennoch hat es auch im ostasiatischen Land lange gedauert, bis mit Yoshimi Yamashita erstmals eine weibliche Schiedsrichterin nicht nur im Frauen-, sondern auch im Männerfussball gelbe und rote Karten verteilen durfte. Ihre Lizenz der Klasse 1 erwarb Yamashita im Jahr 2012, drei Jahre später wurde sie bei der Fifa für internationale Spiele registriert. Die Frau, die ihr langes Haar in Spielen zum Pferdeschwanz gebunden trägt, gilt als eher ruhige, ausgleichende Offizielle.
Ähnlich lässt sich ihr Aufstieg im japanischen Fussball interpretieren. Als sonderlich laute Advokatin einer höheren Frauenbeteiligung im medial stärker präsenten Männerfussball fiel sie anfangs nicht auf. Yamashita bestach durch unauffällige Leistungen, schaffte es, Spiele zu leiten, ohne viele Karten verteilen zu müssen. Als Yoshimi Yamashita im vergangenen Jahr erstmals in der J-League zum Einsatz kam, wurde sie auch in Japan breit diskutiert: Mal wurde von ihrem Aussehen geschwärmt, mal ihre Spielleitung gelobt. Unbekannt dürfte sie heute kaum noch einem Sportfan in Japan sein.
Yamashita will an der WM «etwas zwischen Mensch und Roboter» sein
Dabei hat sich Yamashita daheim bisher auf dankbarem Territorium bewegt. In ihrem Heimatland gehört es quer durch die Sportarten zum guten Ton, die Entscheidungen eines Schiedsrichters ohne Murren zu akzeptieren. Parteilichkeit wird den Unparteiischen praktisch nie vorgeworfen, vom Publikum ausgepfiffen oder beschimpft werden sie auch kaum. International hat Yamashita bisher bei der Asian Champions League der Männer gepfiffen sowie bei der Frauen-WM 2019 und den Olympischen Spielen 2021. Auch hier ist das Verhältnis zum Schiedsrichter noch eher kooperativ.
So wird eine WM der Männer, wo es für Spieler und Fans nicht zuletzt um nationales Prestige und noch alle möglichen Träume jenseits von Fussball geht, eine Art Feuertaufe für Yoshimi Yamashita. Zu den schwierigen Aufgaben einer Schiedsrichterin sagte sie zuletzt: «Ich versuche, irgendwas zwischen Roboter und Mensch zu sein.» Denn beide Eigenschaften brauche es: «Ich will die Regeln anwenden wie eine Maschine. Aber manchmal sind die Dinge nicht schwarz-weiss. Und dann muss ich meine Entscheidungen möglichst menschlich kommunizieren können.»
Wenn Spieler die Schiedsrichterin verbal angehen, hat Yamashita sogar Verständnis dafür: «Sie wenden im Spiel ihre ganze Kraft auf und wollen gewinnen. Das muss ich als Schiedsrichterin verstehen.» Bei der bevorstehenden WM dürfte Yoshimi Yamashita viel Empathie abverlangt werden. Inmitten zu erwartender Pfiffe und Beschimpfungen aus dem Publikum wird aber wohl auch der Roboter in ihr eine entscheidende Rolle spielen.