Artikel 5 ist kein Selbstläufer: Alles, was sie über die Nato-Beistandspflicht wissen müssen
Zwar ist noch unklar, wer die Rakete abgefeuert hat, die am Dienstagabend im polnischen Grenzdorf Przewodow nahe der Ukraine eingeschlagen ist und zwei Menschen getötet hat. Die Nato aber ist alarmiert und kommt zu einem Sondertreffen in Brüssel zusammen. Kommt es jetzt zur gemeinsamen Verteidigung des Bündnisgebiets?
Die wichtigsten Fragen und Antworten rund um den berühmten Artikel 5 im Nato-Vertrag:
Was regelt Artikel 5?
Im wichtigsten Artikel des Vertrags halten die Nato-Verbündeten fest, dass ein «bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird». Er regelt also den kollektiven Beistand: Wird ein Nato-Mitglied angegriffen, wird die gesamte Nato angegriffen.
Bedeutet Artikel 5 den automatischen Kriegseintritt der Nato?
Nein. Im Artikel ist von «Massnahmen (…), um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen oder zu erhalten» die Rede. Diese würden zwar die Anwendung von Waffengewalt einschliessen. Einen automatischen Kriegseintritt aller Nato-Mitglieder gibt es nicht. Ohnehin ist Artikel 5 kein Selbstläufer: Ruft ihn ein Land an, wird der Nato-Rat einberufen und die weiteren Schritte politisch diskutiert.
Wird Polen Artikel 5 anrufen?
Bis jetzt nicht. Wahrscheinlich ist aber, dass Warschau Artikel 4 des Nato-Vertrags aktivieren wird. Dieser sieht Beratungen unter den Alliierten vor, wenn nach «Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist.»
Artikel 4 wurde seit Nato-Gründung 1949 sieben Mal in Anspruch genommen, meistens von der Türkei, zuletzt aber am 24. Februar, dem Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine. Beantragt wurde das damals von Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, der Slowakei und der Tschechischen Republik. Als erste Reaktion hat Polen aber bereits Teile seiner Streitkräfte in erhöhte Einsatzbereitschaft versetzt.
Wie reagieren die Nato-Verbündeten?
Ein Sondertreffen unter Leitung von Generalsekretär Jens Stoltenberg ist für den Mittwochmorgen angesetzt. Die meisten Nato-Verbündeten haben Polen bereits ihre Solidarität erklärt. Man werde «jeden Zentimeter des gemeinsamen Bündnisgebietes verteidigen», hiess es in Stellungnahmen zum Beispiel aus dem Baltikum. Am Rande des G20-Gipfels in Bali kamen die Nato-Staaten USA, Kanada, Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Grossbritannien, Italien und Spanien sowie G7-Mitglied Japan zusammen.
Man verurteile die «barbarischen Raketenangriffe» Russlands auf die Ukraine und versicherte Polen «volle Unterstützung und Hilfe» bei der Untersuchung des Einschlags. US-Präsident Joe Biden sagte jedoch, zum jetzigen Zeitpunkt sei es aufgrund der Flugbahn der Rakete «unwahrscheinlich», dass diese von russischem Gebiet abgefeuert wurde. In einem Telefonat mit Polens Präsident Andrzej Duda erneuerte Biden das «eiserne Bekenntnis der Vereinigten Staaten zur Nato».
Wann kam die Nato-Beistandspflicht schon zum Tragen?
Das einzige Mal seit Nato-Bestehen, dass Artikel 5 je angerufen wurde, war nach den Terroranschlägen in New York am 11. September 2001. Die damals 19 Mitglieder beschlossen einstimmig den Bündnisfall und machten die islamistische Terrororganisation Al Kaida mit ihrem Anführer Osama bin Laden für den Anschlag verantwortlich. Als Folge davon startete eine «Koalition der Willigen» unter US-Führung am 7. Oktober 2001 die Operation «Enduring Freedom» und damit den Krieg in Afghanistan, wo sich bin Laden versteckt hielt. Eine offizielle Nato-Mission zur Stabilisierung Afghanistan folgte erst später. Im vergangenen Jahr zogen die USA und die übrigen Nato-Länder ihre Truppen aus Afghanistan ab.