«Die eigene Familie haben wir uns nicht ausgesucht» – ein Psychologe sagt, wie man Streit an Weihnachten vermeiden kann
Vom Onkel, der rassistische Witze klopft, zur Tante, die nur über Esoterik redet – unsere Verwandten sind uns nicht alle wohlgesinnt. Trotzdem verbringen wir an Weihnachten Zeit mit ihnen.
Wie Sie Streit vermeiden können, weshalb es an Weihnachten häufig kracht, und was Sie tun können, wenn es trotzdem Meinungsverschiedenheiten gibt, erklärt der Psychologe Felix Suter. Er ist Bereichsleiter der Paar-, Familien- und Jugendberatung bei der Perspektive Thurgau, einer Fachorganisation für Gesundheitsförderung, Prävention und Beratung.
Warum zofft man sich immer an Weihnachten?
Warum kommt es überhaupt an Weihnachten in vielen Familien zu Streit? Laut Felix Suter hat das auch mit dem vorweihnachtlichen Stress zu tun. Er sagt:
«Viele Leute sind nach dem Vorweihnachtsmarathon am Abend des 24. Dezembers erschöpft.»
Es gibt aber noch weitere Ursachen. Je nach Familie sieht man sich selten und kommt nur einmal pro Jahr mit allen Mitgliedern zusammen, was alte zwischenmenschliche Konflikte reaktivieren kann.
Auch die starre Vorstellung davon, wie das Weihnachtsfest sein muss, birgt Konfliktpotenzial. Dabei spiele die lebensgeschichtliche Prägung eine Rolle: zum Beispiel Erinnerungen aus der Kindheit, wobei man damals vielleicht nicht ernst genommen wurde oder dafür sorgen musste, dass es keinen Streit gibt unter den Geschwistern.
«Es wird stillschweigend davon ausgegangen, dass die Beziehungen in einer Familie immer gut sein müssen. Dies ist aber nicht zwingend so, die eigene Familie haben wir uns nicht ausgesucht», sagt Suter. Trotzdem tragen viele die Erwartung in sich, dass es mit der Familie automatisch schön und harmonisch sein muss. Kommen grosse Erwartungshaltungen an sich selbst und an die anderen hinzu, könne ein explosives Gemisch entstehen.
Was kann man konkret tun, um Streit zu vermeiden?
Tipps, die im Umgang mit Konflikten helfen können:
– Richten Sie denFokus auf das Verbindende statt auf das Trennende: Mein Gegenüber ist beispielsweise nicht in erster Linie Impfgegnerin, Impfbefürworter oder hat eine andere Glaubensausrichtung als ich, sondern ist mein Bruder, meine Mutter, oder mein Schwager.
– Bestehen unüberbrückbare Differenzen, zum Beispiel in Bezug auf Corona, sollte man dasThema für tabu erklären.
– Vertreten Sie die eigenen Positionen nicht immer noch vehementer, sondernhören Sie zuundteilen Sie dem Gegenüber mit, was Sie verstanden haben.
– Wenn das nichts nützt: Drücken Sie klar und bestimmt aus, dass dasGespräch zu diesem Thema nichts bringt, und erklären Sie es für beendet.
Weshalb sind die Erwartungen an die Festtage bei vielen so hoch?
Weihnachten ist in unserer Kultur die wichtigste Tradition. «Die meisten von uns tragen bezüglich dieses Fests starke positive oder auch negative Erinnerungen aus der Kindheit in sich», sagt Suter. Diese Erinnerungen und die damit verbundenen Gefühle und Erwartungen werden am Weihnachtsfest reaktiviert und prägen unsere Stimmung und Wahrnehmung.
Aber auch die Darstellungen in Filmen, in der Werbung oder in sozialen Medien gehen nicht spurlos an uns vorbei: Sie präsentieren dauerglückliche Menschen in den bezauberndsten Tagen ihres Lebens. Suter sagt:
«In der Realität begegnen sich an Weihnachten aber unperfekte Menschen mit Stress, ungelösten Konflikten und zum Teil überhöhten Erwartungen.»
Diese zu hohe Erwartungshaltung führe häufig zu einer Enttäuschung. Die Wahrnehmung sei darauf gerichtet, wie es sein soll, und leider würden dadurch die unerwarteten kleinen Momente des Glücks nicht gesehen, sagt Suter. Man könne sich schon einen Plan zurechtlegen, sollte aber offen bleiben für das, was im Moment passiere, empfiehlt der Psychologe.
Um die eigenen Erwartungen zu drosseln empfiehlt er weiter, etwas Abstand zu nehmen von der Erinnerung oder der Vorstellung, dass es sein soll wie früher. «Wer sich von seinen Erwartungen etwas lösen kann, erlangt mehr Flexibilität und Offenheit.»
Wie gehe ich am besten mit solchen Differenzen um?
Wir Menschen können unsere Überzeugungen und Wertehaltungen nicht beliebig verändern. Wir haben aber die Möglichkeit, unsere Wahrnehmung und unser Verhalten zu steuern. «Ich kann mich bewusst dafür entscheiden, mein Gegenüber mit seinen liebenswürdigen und verbindenden Seiten wahrzunehmen statt als Gegner», sagt Suter.
Im immer gereizteren Klima bestehe die Tendenz, im Gegenüber nur den Impfbefürworter oder -gegner zu sehen. Dabei sind die Familienmitglieder in erster Linie Menschen, mit denen man seit vielen Jahren eine Beziehung führt und die einem wichtig sind. Darauf sollte man den Fokus legen.
Hilft es, vor dem Familienfest Abmachungen zu treffen und Corona allenfalls als Tabuthema zu definieren?
Wenn es um die Organisation eines grösseren Familienfestes geht und um die Frage, ob und mit welchen Schutzvorkehrungen das Fest stattfinden kann, kommt man um dieses Thema nicht herum. Laut Felix Suter gilt es zu respektieren, dass es riesige Unterschiede darin gibt, wie viel Angst diese Thematik auslöst: «Diese Angst kann ich meinem Gegenüber nicht ausreden.» Jede Person habe aber die Wahl, nicht am Fest teilzunehmen. Auch dies gelte es zu respektieren.
Perspektive Thurgau
DiePerspektive Thurgauist eine Non-Profit-Organisation für Gesundheitsförderung, Prävention und Beratung. Als Gemeindezweckverband organisiert, bietet die Organisation im Auftrag des Kantons Thurgau und dessen 80 Gemeinden Beratungen in verschiedenen Bereichen an: Mütter- und Väterberatung, Paar-, Familien- und Jugendberatung sowie Suchtberatung. Die Angebote stehen der Thurgauer Bevölkerung an den Fachstellen in Arbon, Diessenhofen, Frauenfeld, Kreuzlingen, Münchwilen, Romanshorn und Weinfelden zur Verfügung.
Corona dürfe aber aus zwei Gründen ein Tabuthema sein. Erstens gilt es die Frage zu beantworten: «Möchten wir am Familienfest ein so schweres und belastendes Thema im Fokus haben, oder entscheiden wir uns dafür, unsere Wahrnehmung auf Positiveres zu lenken?» Zweitens: So wie jemand auch nicht in Versuchung komme, ein anderes Familienmitglied von seiner Religion überzeugen zu wollen, ist auch die Coronadiskussion zu verstehen.
«Ich meine damit nicht, dass diese Thematik, die in unserem Leben viel Raum einnimmt, nicht besprochen werden darf», sagt Suter. Ist ein Gespräch darüber in einer Haltung von Toleranz und Offenheit für andere Meinungen möglich, darf und soll selbstverständlich darüber gesprochen werden. Bestehen aber bereits unüberbrückbare Differenzen, sollte dieses Thema besser tabu sein.
So fühlen sich Kinder wohl
Wie wir Weihnachten in der Kindheit erlebt haben, prägt uns also noch heute. Wie können wir die Festtage so gestalten, dass sie für Kinder schön sind? Nicht alle haben ein stabiles familiäres Umfeld. Felix Suter betont, dass man sich an den Bedürfnissen des Kindes orientieren soll.
In unsicheren Zeiten wie diesen halten wir uns gerne an Traditionen und Rituale, die uns Stabilität und Sicherheit geben, sagt Suter. Vor allem für Kinder sei es wichtig, so viel Normalität wie möglich zu erleben. Allzu oft seien sie in den letzten bald zwei Jahren aus der Normalität geworfen worden und erlebten Unruhe und Ängste bei den Bezugspersonen.
In diesem Sinne tue es allen gut, Weihnachten im Rahmen des Machbaren wie gewohnt zu feiern, zur Ruhe zu kommen und wieder Kraft für den Alltag zu tanken.