Staatsmann, Feingeist, Überflieger: Diese Spuren (und offenen Fragen) hinterlässt Alain Berset in der Schweizer Politik
Nach drei Legislaturen und zwei Präsidialjahren ist Schluss: Alain Berset will im Dezember nicht nochmals als Bundesrat kandidieren und auf Ende Jahr nach zwölf Jahren zurücktreten. Das hat der 51-Jährige am Mittwoch überraschend angekündigt.
Bis Alain Berset jedoch effektiv zurücktreten wird, dauert es also noch fast ein halbes Jahr. Dennoch ist bereits heute ersichtlich, welche Spuren und offenen Fragen das derzeit amtsälteste und zugleich jüngste Mitglied des Bundesrats nach zwölf Jahren im Innendepartement hinterlassen wird:
In der Gesundheitspolitik hat Berset verschiedentlich versucht, die steigenden Kosten in den Griff zu bekommen. Meist sind seine Reformbemühungen jedoch am bürgerlichen Widerstand, an Lobby-Interessen im Parlament oder dem Volk gescheitert. Und so steigen die Gesundheitskosten und damit auch die Prämien der Krankenkassen nach der Pandemie nun erst recht wieder steil an.
Auch bei den Sozialversicherungen blieb dem Innenminister der grosse Wurf in seiner Amtszeit verwehrt: Das gemeinsame Reformprojekt von AHV und Pensionskassen versenkte das Volk. Die politisch zunächst breit abgestützte Kompromissvorlage «Altersvorsorge 2020» scheiterte 2017 nicht zuletzt aufgrund von Heckenschützen am linken Rand. Immerhin konnte Berset im vergangenen Herbst dann als erster Bundesrat seit drei Jahrzehnten das Stimmvolk von einer – wenn auch bescheidenen – AHV-Reform überzeugen. Dass er diesen Abstimmungssieg contre coeur einfuhr, und das Parlament den SP-Bundesrat dabei auch zur Erhöhrung des Rentenalters verknurrte, bleibt eine Ironie der Politkarriere des Freiburgers.
Mit besonderer Verve engagierte sich Berset in der Öffentlichkeit jeweils für Kulturthemen. Nebst feingeistigen Reden bei Eröffnungen oder Apéros versuchte er zuletzt mit der Kulturbotschaft 2025-2028 diesen Bereich nach der Pandemie neu auszurichten.
Schlagzeilen machte Alain Berset in den vergangenen drei Jahren jedoch wahlweise als «Corona-General» (Befürworter der Pandemiemassnahmen) oder «Corona-Diktator» (O-Ton SVP und Massnahmen-Gegner). Insgesamt war das Image des Intellektuellen und Staatsmanns da allerdings noch intakt. Von «Monsieur Tausendsassa» war die Rede, vom «Leben auf der Überholspur» eines «selbstbewussten Magistraten» und «brillanten Rhetorikers».
Angekratztes Bild des Staatsmanns
Doch mit der fortschreitenden Pandemie bröckelte dieses Bild. Erst recht seit der Publikation der sogenannten Corona-Leaks zu mutmasslichen Indiskretionen seines ehemaligen Kommunikationschefs Peter Lauener. Dieser soll den CEO des Verlags Ringier mit Entscheiden zur Pandemie bevorzugt behandelt haben. Dazu läuft derzeit eine Untersuchung des Parlaments. Berset hat sich zur Mitarbeit bereit erklärt und dies am Mittwoch bei seiner Rücktrittsankündigung nochmals bekräftigt.
Im öffentlichen Gedächtnis bleiben weitere Affären. Da ist etwa ein Strafbefehl der Bundesanwaltschaft, den zuerst die «Weltwoche» publik gemacht hatte. Dieser betraf eine ehemalige Geliebte. Die Künstlerin hatte versucht, den Innenminister zu erpressen. Berset tat dies in seinen seltenen öffentlichen Stellungnahmen zum Fall als Privatsache ab.
Oder im vergangenen Sommer der Flug nach Frankreich: Wegen eines Missverständnisses in einer Flugverbotszone holte die französische Luftwaffe den Schweizer Innenminister vom Himmel. Juristisch hatte das am Ende zwar keine Folgen für Überflieger Berset. Dass ein SP-Magistrat in den Ferien am Knüppel eines Kleinflugzeugs sitzt, bot jedoch das Sujet für zahlreiche Karikaturen.
Kritik an Corona-Politik und Quittung im Parlament
Kurz darauf machte der «Blick» publik, dass sich Berset zu Hause in Belfaux erfolgreich gegen eine Mobilfunkantenne in der Nähe des Hauses seiner Familie gewehrt hat. Der Gesundheitsminister führte dabei auch gesundheitliche Bedenken ins Feld führte, während sein Bundesamt für Gesundheit versucht, diese Bedenken mit dem Verweis auf Grenzwerte zu entkräften. Berset tat auch dies als Privatangelegenheit ab.
Vor diesem Hintergrund ist der Rücktritt vielleicht doch nicht so überraschend: Alain Berset galt als angezählt. Davon zeugt auch sein Ergebnis bei der Wahl zum Bundespräsidenten im vergangenen Dezember. Berset erhielt damals nur 140 von 246 Stimmen im Parlament. Das war das drittschlechtestes Resultat der vergangenen Jahrzehnte.
Anders war sein Image in der Bevölkerung. Dort haben seine Beliebtheitswerte zuletzt zwar etwas gelitten. Doch sie waren immer gut bis sehr gut. Auch deshalb ist Berset denn auch immer wieder als Überflieger bezeichnet worden.
Kind einer Politikerfamilie
Das Privatleben, und insbesondere seine Familie, hat der Freiburger derweil immer stark von der Öffentlichkeit abgeschirmt. Zuletzt während der Pandemie gezwungenermassen sogar unter Polizeischutz. Er ist verheiratet mit der Literaturwissenschaftlerin Muriel Zeender Berset. Gemeinsam haben sie drei jugendliche respektive volljährige Kinder.
Der Freiburger stammt dabei selbst aus einer SP-Politikerfamilie. Zunächst engagierte er sich im Verfassungsrat und im Gemeinderat von Belfaux, ehe Berset 2003 als jüngstes Mitglied den Einzug in den Ständerat schaffte.
Im Dezember 2011 ist er schliesslich mit 126 Stimmen im zweiten Wahlgang in den Bundesrat gewählt worden. Dabei setzte sich Berset unter anderem gegen Pierre-Yves Mailllard durch, heutiger Waadtländer SP-Nationalrat und Gewerkschaftsbund-Präsident. Er folgte im Bundesrat auf die scheidende Genossin Micheline Calmy-Rey aus Genf.