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«Beschämend, dass es so lange gedauert hat» – «Das schafft Konfliktpotenzial»: So beurteilen Aargauer Nationalrätinnen den Sanktionsentscheid

Von links bis FDP begrüssen auch Aargauer Nationalrätinnen den Entscheid des Bundesrates, sich den Russland-Sanktionen anzuschliessen. Nur Martina Bircher (SVP) sieht das komplett anders. 

Der Bundesrat hat die EU-Sanktionen gegen Russland übernommen, und der Nationalrat hat eine Erklärung der Staatspolitischen Kommission gutgeheissen, die dies forderte. Wie stehen Aargauer Nationalrätinnen und Nationalräte dazu?

Marianne Binder: Bei der Aufnahme von Flüchtlingen sehr grosszügig sein

Nationalrätin Marianne Binder-Keller ist Mitglied der Staatspolitischen Kommission (SPK). Diese hat mit ihrer Erklärung den Druck auf den Bundesrat zum vollen Mittragen der EU-Sanktionen gegen Russland wohl entscheidend beigetragen. Binder ist denn auch froh über den gestrigen Bundesratsentscheid. Dies und das Einfrieren russischer Gelder reicht ihr aber nicht:

«Die Schweiz muss bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine sehr grosszügig sein, so wie damals, als Sowjettruppen in Ungarn und in der Tschechoslowakei einmarschierten.»

Sie hofft sehr, dass Russland in der Ukraine zurückgedrängt werden kann: «Die Menschen möchten doch sicher so rasch wie möglich zurück in die Heimat, um sie wieder aufzubauen.»

Für sie ist es aber auch erschütternd, «wie sich der Westen und mit ihm die Schweiz zu sehr auf der Friedensdividende ausgeruht hat». Man wurde belächelt, wenn man warnte, einen klassischen Angriffskrieg könne es irgendwann wieder geben, und man müsse Verteidigungsarmeen haben, die ihren Namen verdienen. Eine Verbundsaufgabe in Europa. Jetzt sehen wir, dass eine Diktatur in Russland wie einst die Sowjetunion mit brachialsten Mitteln einen Satellitengürtel schaffen will. Beeindruckend für mich ist aber auch, wie Europa zusammenwächst und die Einsicht allgemein wird, dass Frieden und Freiheit keine Selbstverständlichkeit ist.

Maja Riniker: Verteidigungsetat sofort auf 7 Milliarden aufstocken

Sehr mit den gestrigen Bundesratsbeschlüssen einverstanden ist auch FDP-Nationalrätin Maja Riniker, Mitglied der Sicherheitspolitischen Kommission, aber: «Ich war erstaunt, dass es so lange gedauert hat, bis der Bundesrat so entschieden hat.»

«Wir müssen in Europa Geschlossenheit zeigen. Das gilt auch für uns als neutrales Land.»

Sie fand die Ukraine-Debatte im Nationalrat sehr wichtig: «Auch unser Parlament muss sich zu diesem eklatanten Bruch des Völkerrechts durch Russland äussern können, und es war eine sehr gute Debatte.»

Sie schaut schon weiter voraus: Maja Riniker. 

Sie schaut aber schon weiter voraus. Sie hat gestern zusammen mit dem Aargauer Ständerat und FDP-Präsident Thierry Burkart eine Motion eingereicht. Die beiden wollen jetzt den Verteidigungsetat in der Schweiz sofort auf 7 Milliarden Franken beziehungsweise auf mindestens ein Prozent des Bruttosozialprodukts erhöhen. Riniker: «Die Nato-Länder wenden dafür im Schnitt sogar 2 Prozent auf.» Zudem sei die Leistungsbereitschaft der Armee und die Zahl der Armeeangehörigen auf 120’000 zu erhöhen. Mittelfristig sei eine weitere Erhöhung vorzusehen. Und die beiden verlangen: «Das evaluierte neue Kampfflugzeug F-35 ist so schnell wie möglich zu beschaffen. Nebst dem Cyberraum müssen wir auch den Luftraum schützen.»

Martina Bircher: Nicht Konfliktpotenzial zur Neutralität schaffen

Anders sieht dies Nationalrätin Martina Bircher, ebenfalls Mitglied der Staatspolitischen Kommission. Sie stimmte gegen die Annahme der Erklärung ihrer Kommission: «Natürlich habe auch ich eine Riesenwut im Bauch und verabscheue den Krieg in der Ukraine.» Bircher hatte kein Problem damit, als der Bundesrat ursprünglich beschloss, alles zu tun, um zu verhindern, dass EU-Sanktionen via Schweiz umgangen werden könnten: «Dass er jetzt doch automatisch die EU-Sanktionen übernimmt, ist falsch.» Warum das? Man müsse längerfristig überlegen, sagt Bircher: «Wie können wir am meisten zur Konfliktlösung beitragen? Mit unseren traditionellen guten Diensten, statt mit diesen Sanktionen Konfliktpotenzial zur Neutralität zu schaffen.»

Sie glaubt, dass die Schweiz nicht ein Top-Zielland ukrainischer Flüchtlinge wird: Martina Bircher.
Kwystone

Klar ist für Bircher auch die Lehre für die Armee:

«Wir sagen schon lange, dass unsere Armee zu Tode gespart wird. Es ist höchste Zeit, die Mittel unbedingt auf mindestens ein Prozent des Bruttosozialprodukts zu erhöhen.»

Und natürlich brauche die Schweiz das neue Kampfflugzeug, betont Bircher.

Mit Blick auf einen erwarteten Flüchtlingsstrom kritisiert sie, dass vorläufig Aufgenommene und Abgewiesene, die in ihr Land zurückkehren müssten, «neuen Flüchtlingen den Platz wegnehmen». Sie glaubt aber, dass die Schweiz nicht ein Top-Zielland ukrainischer Flüchtlinge wird, «weil die ukrainische Diaspora in der Schweiz eher klein ist».

Gabriela Suter: Ohne Sanktionen würden wir Komplizen des Putin-Regimes

Dass der Bundesrat jetzt doch noch zu den EU-Sanktionen nachgezogen hat, begrüsst SP-Nationalrätin Gabriela Suter natürlich

«Lieber spät als nie. Es ist aber beschämend, dass der Bundesrat so lange für diesen Entscheid gebraucht hat.»

Sie ärgert sich, dass in den Tagen des bundesrätlichen Zögerns russische Gelder noch verschoben werden konnten. Den Widerstand der SVP gegen die Übernahme der Sanktionen findet sie traurig: «Ohne Sanktionen würden wir zu Komplizen des Putin-Regimes.»

«Ohne Sanktionen würden wir zu Komplizen des Putin-Regimes», meint Gabriela Suter. 

Sie richtet den Fokus jetzt auf die Flüchtenden. Sie verlangt vom Bundesrat, dass die Schweiz, wie es die EU plant, kein Asylverfahren durchführt, «sondern geflohene Ukrainerinnen und Ukrainer vorübergehend unkompliziert aufnimmt». Falls er das nicht will, werde man wie schon in der Sanktionsfrage erneut Druck aufbauen: «Jene 120’000 Unterschriften aus der Zivilgesellschaft und die massive Kritik in der internationalen Presse haben entscheidend zum Sinneswandel im Bundesrat bei den Sanktionen beigetragen.»

Was sagt sie zu bürgerlichen Forderungen, man müsse das Armeebudget aufstocken, den Kampfjet F-35 rasch kaufen, und die Gegeninitiative zurückziehen? Die Initiative gegen den F-35 richte sich nicht gegen einen Kauf überhaupt, sondern gegen den gewählten Flugzeugtyp, wendet Suter ein. Tatsächlich hätte sie es bis vor wenigen Tagen nicht für möglich gehalten, dass in Europa im 21. Jahrhundert wieder ein Angriffskrieg entfesselt werden könnte, sagt sie. Welche sicherheitspolitischen Schlüsse daraus zu ziehen seien, müsse man jetzt analysieren.

SP sammelt Spenden für die Ukraine

Seit Montag läuft eine Spendenaktion der SP. Innert knapp 4 Stunden sind Laut Gabriela Suter bereits 190’000 Franken eingegangen. Die Solidarität sei riesig, sagt sie. Der gesammelte Betrag wird am Mittwoch vollumfänglich an das Hilfswerk Solidar Suisse überwiesen. Das zertifizierte Hilfswerk wird in den Nachbarländern der Ukraine geflüchtete Menschen unter anderem mit Nahrungsmittel, Decken, Hygieneartikel und Medikamenten unterstützen.