20’000 Zeugen Jehovas im Zürcher Letzigrund – darum geht’s an diesem Wochenende
Vom 19. bis zum 21. Juli 2024 treffen sich Tausende Mitglieder der Zeugen Jehovas in Zürich. Die umstrittene Religionsgemeinschaft hält dann zum ersten Mal seit 40 Jahren einen «Sonderkongress» im Letzigrund Stadion ab.
Was machen die Zeugen Jehovas im Letzigrund
Die Glaubensgemeinschaft hält dort einen ihrer «Internationalen Sonderkongresse» ab. Ursprünglich war dieser im Sommer 2020 geplant gewesen, wegen der Pandemie wurde er aber verschoben. Die Sonderkongresse der Zeugen Jehovas sind eine Art ganztägige Gottesdienste. An den drei Tagen zwischen Freitag und Sonntag werden je 20’000 Teilnehmende erwartet, gemäss den Veranstaltern rund 3500 aus dem Ausland. Explizit eingeladen sind die Mitglieder aus den umliegenden Ländern, aber auch aus der Ukraine, Australien, USA sowie Taiwan und Trinidad und Tobago.
Unter dem Motto «Macht die gute Botschaft bekannt!» treffen sich die Mitglieder der Zeugen Jehovas, um gemeinsam zu beten, zu singen und Vorträge zu besuchen. Zudem wird der erste Teil einer mehrteiligen Verfilmung (insgesamt sollen es über 1000 Minuten sein)über das Leben von Jesus gezeigt.Der Kongress gilt als wichtige Veranstaltung für die Zeugen Jehovas, um die Gemeinschaft zu stärken – zum Beispiel auchum mögliche Partner kennenzulernen.
Gibt es auch Kritik am Sonderkongress?
Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas ist äusserst umstritten (siehe weiter unten) – mitunter am härtesten kritisiert wird sie von ehemaligen Mitgliedern. Entsprechend gab es auch Kritik an der Stadt Zürich, die den Zeugen Jehovas für den Kongress das Letzigrund Stadion vermietet.
Christian Rossi von der Schweizer Beratungsstelle Infosekta ist ehemaliges Mitglied der Zeugen Jehovas. Gegenüber verschiedenen Medien kritisiert er die Stadt Zürich und sagt, die Vermietung an diese Organisation sei «fragwürdig». Schweiz Tourismus, das inklusive Link zur Website der Gemeinschaft für den Event warb, hat nach Medienberichten dazu dieentsprechende Seite gelöscht.
Die Stadt Zürich selber verteidigt ihren Entscheid und lässtgegenüber dem «Blick» verlauten, die Vermietung erfolge «im Sinn einer nicht diskriminierenden Gleichbehandlung».
Wie sind die Zeugen Jehovas entstanden?
Bei den Zeugen Jehovas handelt es sich um eine Glaubensgemeinschaft. Gemäss derWebsiteder Zeugen Jehovas gehören ihr über 8,8 Millionen Menschen in 239 Ländern an (Zugriff im Juli 2024). In der Schweiz sind es demnach über 20’000.
Begonnen hat die Geschichte der Zeugen Jehovas vor etwa 150 Jahren im US-Bundesstaat Texas. 1870 gründete Charles Taze Russell mit vier weiteren Personen eine Bibelforschergruppe. Er wollte die Bibel unter anderem deswegen vertiefter studieren, da er nicht verstand, wieso ein liebender Gott eine Hölle hätte schaffen sollen. Er kam zum Schluss, dass es keine Hölle geben könne. Bis heute stellt dieses Verständnis einen wesentlichen Bestandteil der Glaubenslehre der Zeugen Jehovas dar. Auf ihrerWebsiteschreibt die Gemeinschaft dazu:
«Wer stirbt, hört auf zu existieren (Psalm 146:4; Prediger 9:5, 10). Keiner wird in einer Hölle gequält. Gott wird aber Milliarden Menschen wieder auferwecken (Apostelgeschichte 24:15). Doch wer dann nicht auf Gott hören will, wird für immer vernichtet – ohne Hoffnung, jemals wieder zu leben (Offenbarung 20:14, 15).»
Intensiv beschäftigten sich die Bibelforschenden rund um Russell auch mit bevorstehenden endzeitlichen Ereignissen, die ihrem Verständnis nach in der Bibel prophezeit worden seien. Im Zuge dessen sagten sie das Ende der Welt bereits fünf Mal voraus: 1881, 1914, 1918, 1925 und 1975.
Nachdem das Ende der Welt 1881 nicht eingetreten war, organisierte sich die Gruppe erstmals als eine religiöse Verlagsgesellschaft. Aufgrund des geglaubten bevorstehenden Endes hatten sie dies zuvor für nicht nötig befunden. Mit der Verlagsgründung wurden sie ab 1881 als Wachtturm-Gesellschaft bekannt. Die Zeitschrift «Der Wachtturm» erschien bereits ab 1879 und gilt heute als Zeitschrift mit der höchsten Auflage weltweit.
Von besonderer Bedeutung war und ist noch immer das Jahr 1914. Während für dieses Jahr zunächst das Ende der Welt und die Rückkehr Jesu Christi vorausgesagt wurde, gilt es nach der heutigen Lehre als der Beginn der «Letzten Tage». Auf ihrer Website schreiben die Zeugen Jehovas: «Die Zustände in der Welt und auch die biblische Zeitrechnung zeigen, dass die letzten Tage 1914 begannen, das Jahr, in dem der Erste Weltkrieg ausbrach.»
Im Gegensatz zur Vergangenheit äussern sie keine Prophezeiungen und Vermutungen mehr darüber, wann das endgültige Ende komme. Nichtsdestotrotz sind sie überzeugt davon, dass dies «schon bald» geschehen werde.
Woran glauben die Zeugen Jehovas?
Als Fundament ihres Glaubens sehen die Zeugen Jehovas die Bibel. Sie glauben an den allmächtigen Gott Jehova und an seinen Sohn Jesus Christus.
Christliche Feiertage wie Weihnachten oder Ostern lehnen sie als heidnische Feste ab. Grund: In der Bibel stehe weder, dass Jesus am 24. Dezember geboren worden sei, noch, dass man dieses Fest zelebrieren sollte. Auch Geburtstage werden bei den Zeugen Jehovas nicht gefeiert.
Der wichtigste Feiertag für sie ist das Abendmahl des Herrn (auch Gedächtnismahl). Dieses wird einmal jährlich gefeiert, um dem Tod Jesu zu gedenken. Weiter halten sie Kongresse – ganztägige Gottesdienste – ab, die sich laut ihrer Website an den drei traditionellen biblischen Festen orientieren.
Zweimal wöchentlich finden sich die Verkünderinnen und Verkünder, wie sich die Zeugen Jehovas selbst nennen, zu Versammlungen zusammen. Dazu treffen sie sich an einem Werk- sowie einem Wochenendtag im sogenannten Königreichssaal. Im Mittelpunkt dieser Zusammenkünfte stehe die Bibel und das gemeinsame Lernen, heisst es auf der Website weiter.
Zentraler Bestandteil der Zeugen Jehovas ist die Mission. Dabei versuchen sie unter anderem mittels Hausbesuchen oder Strassendiensten, «ungläubige» Menschen von ihrem Glauben zu überzeugen. Auf der Website heisst es:
«Alle Zeugen Jehovas, egal wo sie leben, nehmen Jesu Missionsauftrag sehr ernst und setzen regelmässig Zeit dafür ein, anderen von ihrem Glauben zu erzählen.»
Warum stehen die Zeugen Jehovas in der Kritik
Den Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft werden zum einen sehr strenge und veraltete Verhaltensregeln und Moralvorstellungen auferlegt. Dazu gehört ein unbedingter Gehorsam sowie eine komplette Unterordnung der Gemeinschaft.
Christian Rossi, ehemaliges Mitglied der Gruppe, sagt gegenüberdem «Blick», die Zeugen Jehovas hätten für ihre Schweizer Mitglieder «sämtliche demokratischen Rechte abgeschafft». Sie dürften sich weder politisch betätigen noch wählen gehen.
Ein für oft Kontroversen sorgendes Thema ist die Ablehnung von Bluttransfusionen. Hintergrund dafür sind Stellen sowohl im Neuen als auch im Alten Testament, wonach ihrer Auslegung klar geboten werde, sich von Blut zu enthalten. Aus Gehorsam gegenüber Gott, sowie aus Respekt vor dem Blut als Lebensgeber, lehnten sie Transfusionen ab, schreiben sie auf ihrer Website.nGegen die Behauptung, dass aufgrund der Ablehnung von Bluttransfusionen jedes Jahr viele Zeugen Jehovas sterben würden, wehren sie sich: «Eins steht fest: Niemand kann mit Sicherheit sagen, dass ein Patient sterben wird, weil er eine Bluttransfusion ablehnt – oder dass er überleben wird, weil er sie akzeptiert.»
Zudem gibt es aber auch zahlreiche Berichte, wonach (ehemalige) Zeugen Jehovas Gewalt, Missbrauch und – sofern sie einen Austritt anstreben – soziale Isolation erleben. Einer Studie der Universität Zürich zufolge trägt etwa ein Drittel der Aussteigerinnen und Aussteiger Suizidgedanken mit sich. Ausserdem berichten ehemalige Mitglieder überdurchschnittlich von Gewalt in ihrer Kindheit.
Die Schweizer BeratungsstelleInfosekta wählt hingegen deutliche Worte:
Als Hauptproblem sieht Infosekta allerdings den sogenannten Gemeinschaftsentzug. Wollen Mitglieder die Glaubensgemeinschaft freiwillig verlassen, dann dürften «Angehörige und Freunde, die der Gemeinschaft angehören, keinerlei Kontakt mehr mit ihnen pflegen, sie nicht einmal mehr grüssen.»
Der Austritt und seine Konsequenzen
Ehemalige Mitglieder, denen eine Abkehr gelingt, kritisieren denn auch im Nachhinein, dass ihnen dieser Schritt äusserst schwierig gemacht wurde. Was sagt die Gemeinschaft selber dazu?
Ein Sprecher der Zeugen Jehovas Schweiz kommentiert die Vorwürfegegenüber der NZZso: Die öffentliche Diskussion zur Isolation von ehemaligen Mitgliedern sei von Einzelfällen geprägt. Es stehe jedem Zeugen Jehovas offen, die Gemeinschaft zu verlassen, und dass man danach nicht mehr gleich viel Zeit wie vorher mit diesen Personen verbringe, sei normal.
Gemäss der Website kann ein Zeuge Jehovas die Religionsgemeinschaft verlassen. Dies sei auf zwei Arten möglich: entweder durch eine ausdrückliche Erklärung oder durch entsprechende Handlungen, wie beispielsweise dem Anschluss an eine andere Religion.
Brechen Jehovas Zeugen den Kontakt zu ehemaligen Mitgliedern ihrer Gemeinde ab? Diese Frage wird auf der Website unter der Rubrik «Oft gefragt» beantwortet. Dort wird erklärt, dass Zeugen Jehovas, die nicht mehr aktiv seien oder nach und nach den Kontakt zur Gemeinschaft verlören, nicht gemieden würden. Stattdessen versuche man alles, «damit sie ihre Freundschaft zu Gott wiederbeleben können». Die Zeugen Jehovas scheinen sich in diesem Paragrafen allerdings auf Menschen zu beziehen, welche der Gemeinschaft nicht ausdrücklich den Rücken gekehrt haben.
Anders sieht es aus, wenn sich jemand immer wieder über die Normen der Bibel hinwegsetze, ohne Reue zu zeigen. In diesem Fall:
«[…] muss er ausgeschlossen werden und der Kontakt wird abgebrochen. Die Bibel sagt klar und deutlich: ‹Schließt also den, der Böses tut, aus eurer Gemeinschaft aus!› (1. Korinther 5:13, Neue Genfer Übersetzung).»
Was nun aber bei einem gewollten Ausstieg konkret geschieht, wird nicht thematisiert. Erfahrungsberichte legen aber nahe, dass dies wohl auch als etwas «Böses» gewertet wird – und zahlreiche Berichte von Betroffenen zeichnen ein anderes Bild als von den Zeugen Jehovas offiziell beschrieben. In einem Interview mit dem«Beobachter»erklärte die Schweizer Aussteigerin Natalie Barth etwa, dass ihre Familie komplett den Kontakt zu ihr abgebrochen habe.
Auf der Website heisst es zwar, dass ein Aussteiger weiter zur Familie gehöre und die Bindung bestehen bleibe – doch die Realität sieht meist anders aus.