Das Missverständnis Albert Anker: Er malte mit der Wimper eines Rehs und kämpfte für die Bildung von Mädchen
Das Warten auf dieses Weihnachtsgeschenk hat sich gelohnt. Mit dem Schwung eines Pinselstrichs aufersteht in seinem Atelier in Ins ein bekannter Unbekannter, ein Missverstandener sogar: Albert Anker (1831–1919), Schweizer Maler, Porträtist des Landlebens und seiner Menschen, steht vor uns als eine Entdeckung. Denn natürlich ist er das alles: Schweizer Maler, Porträtist von Kindern wie keiner im 19. Jahrhundert. Kinderbilder sind seine leuchtende Hinterlassenschaft, doch jenseits davon lag kunstgeschichtlich Relevantes und biografisch Brisantes lange im Dunkeln.
Der Filmemacher Heinz Bütler will dies ändern. Er stellt in «Malstunden bei Raffael» – sie wünschte sich Anker als seine Beschäftigung im Paradies – den als Schweiz- und Idyllenmaler Verrufenen vom Kopf auf die Füsse und enthüllt einen politischen Visionär. Anker, ein Weltkünstler und Kämpfer für eine moderne Pädagogik. Nicht die Hymne auf die Tradition und die Bauernsame war ihm ein Bedürfnis; sein Herz schlug für den sozialen und gesellschaftlichen Aufbruch, die Gleichstellung der Frau und – Amerika!
Lesende Mädchen, Bilder der Moderne
«Lebt Anker noch? Ich denke oft an seine Arbeiten, ich finde sie so tüchtig und fein empfunden!» Wer so schwärmt und zugleich sorgenvoll nach dem Befinden eines Kollegen fragt, ist kein Geringerer als Vincent van Gogh in einem Brief an seinen Bruder. Das Zitat, gelesen von Endo Anaconda am Anfang des Films, vergegenwärtigt den Horizont Ankers und seine Wertschätzung bereits zu Lebzeiten. Mit van Gogh stand er im Austausch, mit der neusten Kunstströmung, dem Impressionismus, war er auf Du und Du, über 20 Jahre lang lebte und studierte er in Paris. Anker sprach sieben Sprachen, bereiste Italien, liess sich nach Ins zeitgenössische Weltliteratur schicken, über 1000 Bücher umfasst die Bibliothek bis heute.
All das muss mitdenken, wer seine Bilder verstehen will. Der Dokumentarfilm von Heinz Bütler, gedreht ausschliesslich im Berner Seeland, macht das auf eine stille und poetische Weise plausibel. Drei Erzählebenen treffen sich und verbinden sich zu einem kleinen, feinen cineastischen Gesamtkunstwerklein: die Musik, das Bild und das Wort. Der Pianist Oliver Schnyder spielt am Familienklavier der Ankers Grieg, ihn hat er als Seelenverwandten von Anker entdeckt. Endo Anaconda derweil – in seinem letzten Filmauftritt – liest aus den Tagebüchern und erkennt in Ankers «seelischen Zuständen» eine Nähe. Im mit Gipsen, Fotos, Reproduktionen, Reiseandenken tapezierten Atelier nisten sonderbare Dinge, eine «Drogenecke» – mystische Alraune – und ein «Hühnergott». Das kommt Anacondas Exzentrik sehr zupass.
Die Kraft der Selbstzweifel
Während das Ohr leichtfüssigen Grieg von Schnyder zu hören bekommt, einen grummelig-humoresken Anaconda als Alter Ego von Anker, taucht die Kamera (Sergio Cassini) bildersatt und haptisch ins Werk des Malers. Kinder, Kinder, Kinder – die Enkel, Schulkinder, sie sind die Zukunft! Und das Zukünftige, Neue, will Anker feiern. Für die jungen Modelle bastelt er Puppen und spielt Kasperlitheater, er stimmt sie ein auf das spätere Stillsitzen vor der Leinwand. Der Maler ist auch Psychologe.
Neue Details trägt der Ururenkel des Künstlers bei, Matthias Brefin. Nur eigenhändig angefertigte Erdfarben und Pinsel (mit einem Haar: eine Rehwimper) beispielsweise sind Anker gut genug. Und die Selbstzweifel waren oft grösser als die Kraft, sie einzusetzen. Wer Raffael als Vorbild hat, wird am Ende leicht scheitern. Doch Ankers Versagen (vor sich selbst) zählt zum Zärtlichsten in der europäischen Kunstgeschichte.