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Hansjörg Schertenleib erfindet sich im autofiktionalen Roman «Im Schilf» einen besseren Vater

Er ist wohl der fleissigste Schriftsteller der Schweiz. Hansjörg Schertenleib ist seit 40 Jahren in allen Genres unterwegs. In seinem neuen Roman dreht er geschickt einen Vaterhass in eine literarische Rettung.

Wie kommt man als Mann mit der höhnischen, lebenslangen Ablehnung durch den Vater zurecht? Gerade dann, wenn man als Viktor getauft worden ist, also ein Siegertyp sein müsste, aber dann im Auge des Vaters ein Loser und Weichei ist. Schafft man es, diese Demütigung nicht als Verachtung oder Selbstmitleid mit ins dadurch vergiftete eigene Leben, ins eigene Vatersein zu tragen? Hansjörg Schertenleib hat darüber einen mit einigen erkennbaren autobiografischen Elementen bestückten Roman geschrieben. «Im Schilf» ist eine psychologisch überzeugende Skizze geworden – mit viel kraftvoller, souverän platzierter Natursymbolik.

Hansjörg Schertenleib: Im Schilf. Roman. Atlantis, 168 S.
Bild: Pd / Atlantis Verlag

Er beschenkt seinen Ich-Erzähler Viktor mit der tröstenden, gleichwohl melancholischen Kraft der Erfindung, die ihm eine Versöhnung mit dem verhassten Vater ein Stück weit näherbringt. Auch wenn er sagt: «Ich bin froh, ist er gestorben», malt sich Viktor auf den Rat seiner Ex-Frau hin das ihm wenig bekannte frühe Leben seines Vaters so aus, dass er diesen harten Mann nun ein Stück weit respektieren und sich selbst aus der Gefangenschaft des Hasses lösen kann. Dass «Im Schilf» auch noch ein schmerzhaftes Schlaglicht auf die Schweizer Aufsteiger-Mentalität der prüden, reaktionären und leistungsfixierten 1950er und 1960er Jahre wirft, macht den Roman zudem sozialgeschichtlich interessant.

Ein Roadtrip zum Sterbebett in Irland

Schertenleib schickt seinen Erzähler, den 60-jährigen Viktor, mit dessen Ex-Frau Charlotte auf einen dramatischen Roadtrip durch Irland. Ziel ist das Sterbebett des Schwiegervaters Max. Dieser ist der Vater, den Viktor gerne gehabt hätte. Ein Mann, der ihm das genaue Gegenteil des leiblichen Vaters war. Max, der edle, fröhliche und tolerante Ersatzvater, mit dem Viktor freundschaftliche Sauf-, Angel- und Bootswochenenden verbrachte. Arthur hingegen, das ehemalige Verdingkind, der Vater, der im sozialen Aufstieg rabiat, kalt und fanatisch leistungsorientiert zum Familientyrannen geworden ist.

An diesen Roadtrip erinnert sich der Erzähler, als er vier Jahre später die Nachricht vom Tod des leiblichen Vaters erhält. Die Reise vibriert von der angespannten Atmosphäre der beiden Ex-Eheleute, die dem sterbenden Max die makabre Komödie einer nach wie vor glücklichen Ehe vorspielen wollen. Hier die «schöne, kluge, ungerechte und aufbrausende, furchtbare Ex-Frau» und dort der selbstgefällige, sentimentale, defensive Viktor. Ihr zähes Ringen und Abgrenzen, das von intimer Kenntnis und Hassliebe geprägt ist, wird in saftigen Kurzdialogen und auf symbolischer Ebene sofort spürbar. Überhaupt ist Schertenleibs Beschreibungskunst grandios. Er lässt uns den schmatzenden Sauglaut hören, mit dem eine Spitaltür sich schliesst, die verbliebenen Haare von Viktors sterbenskranker Mutter beschreibt er als «Flaum eines geschlüpften Vögelchens».

Der Feigling als interessante Perspektive

Die Landschaft auf jener Reise ist bei Schertenleib nämlich immer auch sprechend: Die vom Erzähler angeekelt beobachtete Zersiedelung Irlands spiegelt die zerbrochene Ehe mit Charlotte, ein Gewitter an der Küste den eskalierenden Hass. Etwas aufdringlich ist diese Symbolisierung schon, aber der literarische Routinier schafft dadurch eine unruhige, von Angst und Selbstvorwürfen besetzte Seelenlandschaft.

Der Sihlsee, auf dem Viktor mit Max früher Angelwochenenden verbracht hat, wird Viktor zum Fluchtort. Wenn er Konflikten ausweicht, schweift er gedanklich dorthin – zum nostalgischen Rückzugsort. Dies ist ein psychologisches Kernmotiv. Hier zeigt sich die interessante Figurenperspektive. Bei Viktor schält sich im Verlauf des Romans sein Charakter als Feigling heraus. Er wird als Beschädigter sichtbar, der nicht aus der Beobachterrolle herauskommt. Und der es nicht einmal schafft, an Max’ Totenbett zu stehen. Besonders exemplarisch zeigt es sich, als er im Streit um Max’ Asche zwischen der rabiaten Charlotte und der ebenfalls energischen Witwe von Max nur laviert. Deshalb ist die Suche nach einer heilsamen Lebensgeschichte in diesem Roman so ergreifend.