Margrit Schriber erzählt, wie sie vor 49 Jahren zur Schriftstellerin wurde
Es war im April 1973, Werner Schmidli und Christoph Geiser hatten die Texte ausgewählt, die sie in Nr. 19 der Literaturzeitschrift «drehpunkt» publizieren wollten. Geiser kam die Aufgabe zu, die abgelehnten Texte zurückzuschicken, aber als ihm eine Einsendung mit dem Titel «Sonntag» unter die Augen kam – nicht er, Schmidli hatte sie geprüft –, las er sich fest. 49 Jahre später, im März 2022, erinnert er sich: «Es war einer jener Augenblicke, die man nicht mehr vergisst: Das ist ja Literatur! Nicht einfach Text. In einem Wust von Texten begegnest Du plötzlich Gekonntem … so dass man sich eben festliest, hängen bleibt.»
Es gab einen «Wiedererwägungsantrag», und mit der Erzählung «Sonntag», die vom Besuch dreier spiessiger Schweizerinnen in einem Heim für napalmgeschädigte vietnamesische Flüchtlingskinder handelt, erschien im «drehpunkt» Juni 1973 erstmals eine Publikation der damals 34-jährigen Margrit Schriber. Es ist nach wie vor einer der eindrücklichsten Texte zum Thema «Die Schweiz und die Flüchtlinge».
Ihre Frauenfiguren werden immer stärker
Zwischen dem aus lauter Hauptsätzen bestehenden, von einem hämmernden Rhythmus getragenen Erstling «Aussicht gerahmt» 1976 und dem 2018 erschienenen Roman «Schöne Aussichten», hat Margrit Schriber 14Romane geschrieben. Ort und Zeit sind beiden Romanen gemeinsam. Im Erstling zeichnete sie das Aufbegehren einer Frau, die aus ihrer Ehe ausgebrochen und das Schreiben zu ihrem Beruf gemacht hat, sich aber beim Blick aus dem Fenster selbst fremd und verloren vorkommt. In «Schöne Aussichten» führt sie mit der Tankstellenbesitzerin Pia eine Frau vor, die sich in einer Männerwelt glorios zu behaupten vermag.
Alle ihre Bücher brachten das Erwachen und Erstarken des weiblichen Selbstbewusstseins – aber immer wieder auch das tragische Scheitern daran – anhand von einprägsamen Figuren zum Ausdruck: die in eine nebelhafte Freiheit aufbrechende Lisa Plüss in «Vogel flieg» (1980), die in Erstarrung versinkende traumatisierte Wirtin in «Muschelgarten» (1984), Leni Bider, die lieber den Tod erleidet, als das im Titel genannte «zweitbeste Glück» zu akzeptieren (2012).
«Ewigverliebtsein» und Knochenarbeit
In ihrem neusten Buch macht Margrit Schriber nun erstmals sich selbst zum Thema. Man erfährt, wie die Ingenbohler Klosterschülerin das Schreiben entdeckte, nach Jahren als Bankangestellte und frustrierte Ehefrau ernsthafte Versuche dazu unternahm und erst wirklich Ernst damit machte, als eine Rivalin einen Schuss auf sie abgab, der ihre Ehe zertrümmerte und sie zur Selbstständigkeit zwang.
So locker sie aneinandergefügt sind, die Schilderungen machen klar, was dem Unverwechselbaren ihres Schreibens Pate stand. Da war der Vater, ein mysteriöser Wunderheiler: «Er zeigte mir die Unendlichkeit des Sternenhimmels und wie man sich mit den Augen die winzigen oder die gewaltigen Dinge auf unserer Welt zu eigen macht.» Da war das als Kind erlebte Magische der katholischen Religion. Da war eine früh geweckte, höchst lebendige Fantasie. Und da war auch noch dieses «Ewigverliebtsein» in Menschen und Dinge, mit dem sie sich Robert Walser nahe fühlte. Zu dem allem aber gehört die Auffassung vom Schreiben als harte Knochenarbeit, die auch der inzwischen 83-jährigen noch täglich viele Stunden am Schreibtisch abzwingt: «Nur Spitzwegs Poet wird von der Muse geküsst. Gewöhnlichen Autoren passiert das nicht.»
Schreiben war ohne Frauenbonus ihre Emanzipation
Man könnte das Buch auch als Schlüsselroman lesen, macht es doch nachvollziehbar, wie herablassend berühmte Schriftstellerkollegen die gerne als «Schriberli» verniedlichte Kollegin behandelten, weil sie nicht akzeptieren konnten, dass sie bei Peter Weiss und Peter Handke Anerkennung fand. Enttäuscht sein wird jedoch, wer in dem Buch ein Bekenntnis zu #MeToo oder zu aktuellen Frauenrechtsdiskussionen sucht. «Schreiben war meine Art der Emanzipation» gibt Margrit Schriber zu Protokoll, und als negative Reaktion, die sie habe verkraften müssen, nennt sie «Frauenbonus statt Gewichtung meiner Arbeit».
Nein, eine Abhandlung oder ein Pamphlet will dieses Buch nicht sein, das wie viele ihrer anderen eine spielerische Note besitzt. Die ganze Zeit ist nämlich eine gewisse Dolly Esquiero mit von der Partie. Eine exzentrische Bergsteigerin, mit deren Tod das Buch beginnt. Diese Dolly hat jenes «Abenteuer, eine Frau zu sein» erlebt, während die Erzählerin an ihrem Arbeitstisch sass und schrieb und schrieb.
Ja, und wenn nicht alles täuscht, ist diese Dolly sogar identisch mit der jungen Frau, die ihre Freundin mit einem Pistolenschuss zur Schriftstellerin gemacht hat.