Schriftsteller Lukas Hartmann schreibt über die vergebliche Liebe zur jungen Sowjetunion
1997, in «Der Konvoi», hat Lukas Hartmann erzählt, wie man 1918 die ausgewiesenen Sowjetdiplomaten an den streikenden Arbeitern vorbei auf geheimen Wegen an die Grenze transportierte. Und dieser Landesstreik, bei dem Bern irgendeine Absprache mit der Sowjetbotschaft vermutete, spielt nun eine Rolle in Hartmanns neustem Roman «Ins Unbekannte. Die Geschichte von Sabina und Fritz». Mit Fritz ist nämlich der «Berufsrevolutionär» Fritz Platten gemeint, der nach dem Abbruch jenes Generalstreiks als einer seiner Drahtzieher ins Gefängnis kam, kurz danach aber in den Nationalrat gewählt wurde.
Im Roman begegnen wir Platten erst 23 Jahre später unter bedrückenden Umständen bei der Verfertigung von Schindeln im sowjetischen Straflager Lipowo. Anders als der kompromissbereite Robert Grimm, der zu Amt und Würden gelangte, verkraftete er das Scheitern der revolutionären Träume nicht und zog 1923 mit andern Schweizer Exilanten in die sowjetische Kolchose Nova Lava, um da seine Utopie doch noch zu realisieren. Das Experiment scheiterte krachend, nach dem Tod von Lenin, dem er 1917 die Rückfahrt nach Russland ermöglicht hatte, verlor er seinen Protektor, wurde als Staatsfeind verhaftet und interniert. Die Illusionen aber liess er sich nicht rauben. «Wenn Stalin davon wüsste, würde er eingreifen», glaubte er noch unter der Folter, und wehmütig erinnerte er sich im Gulag an die revolutionären Aktionen, die doch alle missglückten und aus dem umjubelten Agitator einen verachteten Sträfling gemacht hatten.
Am Ende bleibt die Liebe zu Berta
Wie resigniert er in Wahrheit ist, verrät einzig die Tatsache, dass der Mann, der als Liebhaber ein «Luftibus» war und keiner Partnerin treu bleiben konnte, zuletzt sein ganzes Denken und Fühlen auf seine dritte Frau, die Schweizerin Berta Zimmermann, richtet, die spurlos verschwunden ist. Die Erinnerung an ihre Zärtlichkeit, die Nächte mir ihr, ihre braune Haut: all das lässt ihn nun auch das Schlimmste ertragen, und als er erfährt, dass sie erschossen wurde, baut er ihr aus Steinen und Blumen ein Denkmal und lässt nicht davon ab, an sie zu denken.
Vitale Gegenfigur: Sabina Spielrein
Fritz Plattens melancholischem Lebensrückblick aus dem Gulag stellt Lukas Hartmann in einer kühnen Konstruktion das Lebensbild von Sabina Spielrein gegenüber. Es vermittelt, Stück für Stück im Wechsel mit Plattens Erinnerungen chronologisch erzählt, eine eindringliche Darstellung der kurzen Vita dieser Frau, die im russischen Rostow als Tochter einer jüdischen Familie geboren wurde, 1905 mit 19 Jahren Patientin von C. G. Jung im Zürcher Burghölzli wurde und später selbst Psychoanalytikerin war. In diesem zweiten, etwas grösseren, aber auch spannenderen Teil des Buches treten von Sabinas Eltern, ihren Brüdern, ihrem späteren Ehemann Pawel Scheffel bis zu ihren Freundinnen, ihren zwei Töchtern und russischen Bekannten wie Alexander Solschenizyn so viele Figuren auf, dass es ratsam scheint, sich auf die zentrale Begegnung Spielrein/C.G.Jung zu konzentrieren.
Eine verbotene Liebe
Fast von Anfang an versucht die von Lachzwängen und Zusammenbrüchen heimgesuchte junge Frau den «Herrn Doktor» aus der Reserve zu locken, was der schon bald in ihn Verliebten schliesslich so erfolgreich gelingt, dass Jungs Ehefrau, alarmiert durch Sabinas Mutter, ein Machtwort spricht und der von Sabina selbst informierte Sigmund Freud, der dem Zürcher Kollegen die Stange hält, ihr rät, sich aufs Studium zu konzentrieren. Meisterhaft, wie Hartmann das Dilemma fassbar macht, in welchem Jung, hin und her gerissen zwischen einer Art Hörigkeit und der Angst vor dem Skandal, schliesslich halbherzig klein beigibt, aber zulässt, dass Sabina als Verführerin dasteht. Auch nach dem offiziellen Abbruch der Beziehung, ja selbst noch, als Sabina, inzwischen in Russland und unter dem stalinistischen Terror lebend, Jungs antisemitische Ausfälle zu lesen bekommt, kann sie sich nicht restlos von seiner Faszination befreien.
Im Sterben vereint
«Ins Unbekannte» heisst der Roman, und Sabina und Fritz, die sich nur ein einziges Mal, 1905 während einer Demonstration, kurz gesehen haben, teilen miteinander tatsächlich das fatale Moment, dass beide zu einem unglücklichen Zeitpunkt die relativ sichere Schweiz verlassen und in die UDSSR ins Unbekannte ziehen: Fritz aus der utopischen Hoffnung heraus, im Sowjetstaat ein lebenswertes Leben anzutreffen, Sabina, weil sie Sehnsucht nach ihrer Heimat hat und ihren Ehemann wiedersehen will. In Russland aber erfüllt sich für beide kurz hintereinander ihr Schicksal in fürchterlicher Weise. Fritz Platten wird am 22. April 1942, während er Blumen auf das Denkmal seiner unvergesslichen Berta legt, von den Russen hinterrücks erschossen, Sabina Spielrein findet nach der Deportation ihrer ganzen Familie am 12. August 1942 als Opfer des deutschen Judenprogroms von Rostow den Tod, nachdem sie sich noch Tags zuvor gefragt hat, «ob die Begegnungen mit C.G.Jung nicht doch ein Höhepunkt in ihrem Leben gewesen» seien.