Selenski und von der Leyen: Ukraine soll völlig neu aufgebaut werden
Die Kämpfe in der Ukraine seien kein lokaler Krieg irgendwo in Osteuropa, sondern ein Angriff auf Europa und «die gesamte demokratische Welt», sagte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski am Montag an der Wiederaufbaukonferenz in Lugano, zu der er mit einer Videobotschaft zugeschaltet war. Damit brachte er den «Spirit of Lugano» auf den Punkt, den Bundespräsident Ignazio Cassis in seiner Eröffnungsrede beschworen hatte: Nicht nur die Verteidigung, sondern auch der Wiederaufbau des Landes soll als gemeinsame Aufgabe des gesamten Westens verstanden werden.
Es gehe um mehr als nur um die Wiederherstellung zerstörter Infrastruktur, sagte der ukrainische Premierminister Denys Shmyhal. Ziel sei es, in der Ukraine ein neues Land aufzubauen. Wie dieses aussehen soll, umriss EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede. Ein Zurück zur Ukraine vor dem Krieg gibt es für sie nicht: Die Ukraine werde nicht so wiederhergestellt, wie sie gewesen sei, sondern so, wie sie «ihre jungen Menschen» haben möchten, versprach sie. Konkret heisst das: Eine modernere, grünere und digitalere Wirtschaft, Klimaneutralität, und angesichts der Nachbarschaft Russlands die «Sicherstellung von Sicherheit und Verteidigung».
Schaltstellen in Kiew, Washington, London und BrüsselAngetrieben werde dieser Prozess von den «Träumen und Hoffnungen des ukrainischen Volkes», so von der Leyen. Bei der konkreten Ausgestaltung will der Westen die Ukrainer aber an die Hand nehmen. Dazu soll eine «Wiederaufbau-Plattform» mit Hauptsitz in Kiew und Büros in Washington, London und Brüssel geschaffen werden, wie Shmyhal ausführte. An der Plattform sollen sich neben Geberländern weitere internationale Organisationen, Finanzinstitute und Investoren beteiligen können.
Dabei sollen einzelne Länder bestimmte ukrainische Regionen im Rahmen einer Art Patronage integral beim Wiederaufbau unterstützen, so Shmyhal weiter. Grossbritannien habe dies für die Grossregion Kiew bereits zugesagt. Finanziert werden soll der Wiederaufbau nach Shmyhals Vorstellung zumindest teilweise mit russischen Geldern, die im Zuge der Sanktionen blockiert oder sogar konfisziert worden sind. Er rechne mit 300 bis 500 Milliarden US-Dollar, die Russland so entzogen würden. Die Kosten für den Wiederaufbau veranschlagte Shmyhal auf 750 Milliarden.
Wie sich auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos gezeigt habe, seien internationale Investoren sehr interessiert an Geschäften in der Ukraine, sagte von der Leyen. Und die britische Aussenministerin Liz Truss stellte in Aussicht, zusammen mit dem Bankenplatz London dafür zu sorgen, dass die Ukraine schon 2023 eines der attraktivsten Länder für Investoren sein werde.
Selenski: «Freistes Land der Welt»In einem ersten Schritt soll in Lugano nun ein Dokument mit den wichtigsten Prinzipien des Wiederaufbaus unterzeichnet werden. Für den Herbst kündigte von der Leyen eine hochkarätige internationale Konferenz mit «führenden globalen Experten» an.
Präsident Selenski zeigte sich trotz der massiven Verluste der ukrainischen Armee nach wie vor siegesgewiss. Die gesamte Ukraine werde verteidigt und befreit, mit Hilfe des Westens werde sie gar zum «freisten Land der Welt», sagte er. Voraussetzung dafür seien aber rasche Unterstützung und finanzielle Zusagen für Verteidigung und Wiederaufbau.