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Seltene Krankheiten: Schneller zur Diagnose mit dem digitalem Zwilling
Tilda liebt Geschichten. Stundenlang kann sie vor ihrer Toniebox sitzen, versunken in fremde Welten. Manchmal spielt sie die gehörten Abenteuer mit Playmobil-Figuren nach, manchmal ihre eigenen Erlebnisse. So verarbeitet sie, was sie bewegt – spielerisch und in sicherem Abstand zur Realität. Meistens hilft ihr das, mit Überforderung und Frust umzugehen.
Doch manchmal stauen sich die Emotionen tagelang in ihr auf, vor allem die negativen – bis zu einem Zeitpunkt, an dem sich alles in einem gewaltigen Ausbruch entlädt: «Es ist ein psychischer Ausnahmezustand», sagt ihre Mutter, Lena Heskamp. Er komme ohne Vorwarnung und sei nicht aufzuhalten. «Für Tilda ist das körperlich so anstrengend, dass sie danach erschöpft in einen tiefen Schlaf fällt.»
Tilda, 6 Jahre alt, hat blonde Haare, eine grosse, violette Brille – «ein wunderhübsches Mädchen, mit einem bezaubernden Lächeln», sagt ihr Vater, Matthias Heskamp, im Wohnzimmer bei Kaffee und Guetsli. Aber Tilda leidet am Sotos-Syndrom. Ihre sozial-emotionalen Fähigkeiten und ihre Entwicklung hinken denen von Gleichaltrigen hinterher. Die Eltern beschreiben ihre Tochter als äusserst kontaktfreudig. Doch ihr Verhalten irritiere andere immer wieder.
Expertin für seltene Erkrankungen ist niemand
Das Sotos-Syndrom gehört zu den seltenen genetischen Erkrankungen. Das Problem: Die Symptome bei seltenen Erkrankungen sind oft unspezifisch und variieren von Patient zu Patient – was die Diagnose enorm erschwert. «In solchen Fällen steht man als Ärztin vor einer Herausforderung», sagt Nicole Ritz, Chefärztin für Pädiatrie am Kinderspital Zentralschweiz des Luzerner Kantonsspitals.
Der erste Hinweis, dass bei Tilda etwas nicht stimmt, kam bei einer gynäkologischen Untersuchung rund zwei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin. Der Ultraschall zeigte eine stark vergrösserte Niere, eine sogenannte Doppelniere. Zudem schien es, als befinde sich im Herzen ein Loch. «Beunruhigt hat uns das zunächst nicht», sagt Lena Heskamp. Denn Doppelnieren sind eine häufige anatomische Variante, die bei etwa 3 Prozent der Bevölkerung vorliegt. Und mit einem Loch im Herzen kommen ebenfalls viele Babys zur Welt.
Doch beim Zwei-Monats-Check wurde es plötzlich schwierig – emotional und medizinisch, erinnert sie sich. Die Ärzte entdeckten Zysten an Tildas Doppelniere, einen Tumor am Steissbein, nicht nur ein, sondern ganz viele Löchlein am Herzen. Zudem entwickelte sich Tilda nicht ihrem Alter entsprechend.
Dann begann die Odyssee: Operationen, nicht enden wollende Arzttermine in immer mehr medizinischen Fachbereichen – Neonatologie, Neuropädiatrie, Chirurgie, Endokrinologie, Nephrologie, Kardiologie, Orthopädie, Orthoptik, Augenklinik, HNO, Pneumologie. Dazu endlose Antibiotikakuren gegen Lungen- und Nierenbeckenentzündungen, eine ständige Suche nach Antworten. «Im Schnitt waren wir alle zwei Wochen im UKBB, dem Universitätskinderspital beider Basel», sagt Matthias.
Auch einen Gentest liessen die Eltern durchführen, der dann tatsächlich eine Mutation auf dem NSD1-Gen offenlegte – typisch für die Sotos-Krankheit. Eigentlich. Doch die Art der Mutation passte nicht. «Das war ganz schwierig: Zunächst dachten wir, einen Namen für Tildas Krankheit zu kennen. Und dann doch nicht. Also wieder zurück auf Feld eins.» Tatsächlich war es erst drei Jahre später, als der Anruf mitten im Sommerurlaub kam, dass man nun aufgrund neuer Forschung wisse, dass auch Tildas Genmutation das Sotos-Syndrom auslöst.
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Bild: Raphaël Dupain
Trotz Gentest keine Diagnose
Auch wenn es bei Tilda lange gedauert hat: Es ist nicht selbstverständlich, überhaupt eine Diagnose zu erhalten. In 40 bis 50 Prozent der Fälle von kranken Kindern helfen auch Gentests nicht weiter.
Ines Thiele ist Professorin für Molekulare Systemphysiologie an der Universität Galway (Irland) und Teil des europäischen Projekts mit dem sperrigen Namen Recon4IMD. Es zielt darauf ab, seltene genetische Stoffwechselerkrankungen mithilfe von datengestützten Modellen und künstlicher Intelligenz zu diagnostizieren und gezielter zu behandeln – noch bevor erste Symptome auftreten. «Es kann bis zu fünf Jahre dauern, bis Kinder mit einer seltenen Erkrankung eine Diagnose erhalten», sagt Thiele. «Unser ambitioniertes Ziel ist, dies auf unter ein Jahr zu senken.» Die Hoffnung legen sie und ihre Kolleginnen und Kollegen in digitale Zwillinge.
Ein digitaler Zwilling bildet den menschlichen Körper virtuell ab – mit genetischen Daten, Vitalwerten, Stoffwechselparametern und Laboranalysen. Ein Team um Thiele und Elaine Zaunseder von der Uni Heidelberg und dem Heidelberger Institut für Theoretische Studien hat einen Zwilling entwickelt, der speziell auf Neugeborene zugeschnitten ist. Er simuliert ihr Wachstum, zeigt, wie sie Nährstoffe verwerten, wie sich ihr Gehirn entwickelt und welche Stoffwechselprozesse aus dem Gleichgewicht geraten könnten. «Je mehr Daten wir haben, desto präziser wird das Modell», sagt Thiele.
Für die Pädiaterin Nicole Ritz steckt darin eine «unglaubliche Möglichkeit für seltene Erkrankungen». Die grösste Herausforderung sei es, Wissen zu bündeln und Ärztinnen und Ärzte weltweit zu vernetzen. «Eine Ärztin, die ein Baby untersucht und nicht weiss, woran es leidet, kann dessen Daten ins Modell einspeisen und erhält gestützt auf ähnliche Fälle aus aller Welt Hinweise auf mögliche Diagnosen und Behandlungen», erklärt Ritz.
Für betroffene Familien wäre das ein enormer Gewinn. Denn bislang ist die wohnortnahe Betreuung von Kindern mit seltenen Erkrankungen schwierig. Sie müssen in Referenzzentren für seltene Krankheiten in der Schweiz oder im Ausland betreut werden. «Das ist für die kleinen Patienten eine grosse Belastung», sagt Ritz. «Mit digitalen Zwillingen könnte das Wissen aus den besten medizinischen Zentren direkt zum Kind kommen – egal, wo es lebt.»
Noch sind solche Modelle nicht in der breiten Klinikpraxis angekommen. Doch erste derartige Anwendungen gibt es bereits, etwa in der Kinderkrebsmedizin mit personalisierten Therapien. «Aus genetischen Daten eines Tumors und biologischen Daten des Kindes kann der Tumor besser verstanden werden und so seine Aggressivität berechnet werden», erklärt Ritz. Aufgrund dessen lässt sich entscheiden, ob eine sanftere Therapie ausreicht oder von Anfang an eine intensive Behandlung nötig ist – samt aller Nebenwirkungen. Ähnliches sei in Entwicklung für Infektionen und die Gabe von Antibiotika.
Bis digitale Zwillinge für die Diagnose und Behandlung von seltenen Krankheiten in der Routineversorgung ankommen, müssen sie sich noch in klinischen Studien beweisen. «Wir müssen zeigen, dass sie mindestens so gut sind wie die klassischen Diagnose- und Behandlungsmethoden», sagt Ritz. Derzeit beobachtet sie aber eine enorme Dynamik auf diesem Gebiet und rechnet damit, dass in fünf Jahren die ersten digitalen Zwillinge eingesetzt werden könnten.
Unsicherheit auch nach Diagnose
Der Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten (KMSK) hat kürzlich eine Online-Umfrage unter betroffenen Familien durchgeführt, 120 nahmen daran teil. Rund die Hälfte der Eltern, die eine Diagnose für ihr Kind erhalten hatten, war zufrieden darüber. Die andere Hälfte haderte allerdings, weil sie begann, sich über die Krankheit im Internet zu informieren – und auf lauter traurige Schicksale stiess. Gerade aus solchen Gründen wünschen sich viele Eltern eine psychologische Begleitung. Da sei es «umso schockierender», schreibt der KMSK, dass zwei Dritteln keine solche Unterstützung angeboten wurde.
Auch Lena Heskamp hätte sich mehr Unterstützung gewünscht – ein strukturiertes Case Management, psychologische Hilfe. Gleichzeitig betont sie, wie viel Rückhalt sie als Eltern von den betreuenden Ärztinnen und Ärzten erfahren haben.
Wie sich Tildas Zukunft entwickeln wird, wissen die Heskamps derweil nicht. Matthias weiss zum Beispiel von einer Familie, deren Sotos-Kind die Matura geschafft hat. Andere bleiben ihr Leben lang auf Unterstützung angewiesen. Aber: «Tilda macht sich grossartig, sie hat Fahrradfahren gelernt – keine Selbstverständlichkeit für Kinder mit ihrem Syndrom», sagt er. Nächstes Jahr wird sie mit einer 1:1-Betreuung in die Regelschule gehen.
Unterstützung erhält Tilda auch von ihrer kleinen Schwester. Fine, zwei Jahre alt, übernimmt manchmal schon die Rolle der «grossen Schwester». Erst gestern, erzählt Lena, sei es wieder passiert: Es war Zeit für das abendliche Kinder-Yoga, die Matten sollten ausgerollt werden. Doch Tilda hatte einen schwierigen Moment, die Stimmung drohte zu kippen. Fine habe dann einfach Tildas Matte genommen, sie ihr ausgerollt und motiviert mitzumachen. «Ein niedliches Bild, welches die tiefe Verbundenheit der beiden Schwestern zeigt», findet Lena, «auch wenn es eigentlich andersherum sein sollte.» Aber was heisst schon normal?
Auch wenn Tilda für vieles mehr Zeit, Übung und Geduld brauche, erreiche sie ihre Ziele. «Sie überrascht uns immer wieder», sagt Matthias, «und wir sind unbeschreiblich stolz auf sie.»