Schwere Missbrauchsvorwürfe von der eigenen Tochter gegen Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro
Die im Mai im Alter von 92 Jahren gestorbene kanadische Schriftstellerin Alice Munro, die 2013 den Literaturnobelpreis erhielt, ist oft dafür gelobt worden, dass sie in ihren Büchern schonungslos die intimsten häuslichen und familiären Dramen offenlegte. Die Kritik feierte sie als selbstkritische und skrupulöse Erzählerin. Ihre Geschichten handeln oft von rebellischen Frauen.
Nun ist eine ganz andere Wahrheit über die Autorin ans Licht gekommen: Ihre Tochter Andrea Robin Skinner hat in einem Artikel im «Toronto Star» bekannt gemacht, sie sei als Neunjährige sexuell missbraucht worden, und zwar von Alice Munros Lebensgefährten, also ihrem Stiefvater.
Er zog sich immer wieder vor dem Mädchen aus
Die Tochter lebte damals bei ihrem leiblichen Vater James Munro, von dem sich Alice Munro 1973 getrennt hatte. Während eines Besuchs bei der Mutter soll deren neuer Lebensgefährte sich an ihr vergangen haben. In den Jahren danach habe der Stiefvater sich bei Besuchen immer wieder vor dem Mädchen ausgezogen und über Sex gesprochen. Auch andere Kinder soll der Mann belästigt und missbraucht haben.
Als Erwachsene zeigte Skinner den Stiefvater an. Er wurde im Alter von 80 Jahren schuldig gesprochen und zu zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Zum Gerichtsverfahren kam es nur, weil Skinner Briefe des Täters aufbewahrte.
In einem Brief soll der Stiefvater die Neunjährige als «homewrecker» («Ehezerstörerin») bezeichnet haben, die «auf der Suche nach sexuellen Abenteuern» gewesen sei. Die klassische Täter-Opfer-Umkehr. Er soll ihr auch gedroht haben, Fotos von ihr zu veröffentlichen.
Munro hatte mehr Mitleid mit sich als mit der Tochter
Alice Munro habe von dem Missbrauch schon lange gewusst. In einem Brief hatte ihr die Tochter als junge Frau von der Tat berichtet. Daraufhin habe Munro ihren Partner verlassen, aber nur kurzzeitig. Skinner wirft der Mutter vor, sie habe weniger Mitleid mit ihrer Tochter gehabt als vielmehr sich selbst bemitleidet. Sie reagierte so, als habe sie soeben erfahren, dass ihr Partner ihr untreu gewesen sei.
Skinner litt aufgrund der schrecklichen Erfahrungen unter Essstörungen. Alice Munro blieb aber auch nach dem Gerichtsurteil bei dem Mann, der ihre Tochter missbraucht hatte. Die Mutter soll ihr, wie Skinner berichtet, gesagt haben, nichts mit dessen «Freundschaften mit Kindern» zu tun zu haben. In der Öffentlichkeit beschrieb Alice Munro ihren 2013 gestorbenen Partner gar als besonders liebevoll.
Zum Leidwesen der Tochter schützte der literarische Ruhm ihre Mutter zu Lebzeiten vor unliebsamen Fragen zu den Untaten ihres Partners, obwohl, so Skinner, manche, auch einflussreiche Personen davon gewusst hätten. Munro schrieb zwar viel über Töchter und in «Der Traum meiner Mutter» auch aus der Optik einer rebellierenden Tochter.
Doch konkret über das Leid, das ihrer eigenen Tochter widerfuhr, hat die Mutter kein literarisches Wort übrig gehabt. Im Internet kursiert deshalb das Zitat aus dem Buch «Liebes Leben» von 2012: «Wir sagen von manchen Dingen, dass sie unverzeihlich sind oder wir sie uns nie verzeihen werden. Aber genau das tun wir – wir tun es immerzu.»