Keine Schweizer Kriegsgüter für die Ukraine: Das Paradox der bewaffneten Neutralität
Das Verständnis für die strikte Auslegung der Neutralität durch den Bundesrat schwindet. Im Inland, wo die Präsidenten von FDP und Mitte öffentlich Kritik üben. Ab er auch international. So sagte der deutschen Vizekanzler Robert Habeck am Sonntag in Davos: Verweigere man die Lieferung von Waffen, «dann unterscheidet man nicht mehr zwischen Angreifer und Angegriffenem. Ein Gesetz, das quasi blind ist gegenüber Russland und der Ukraine, ist ein Gesetz, das die Wirklichkeit nicht mehr einfängt.» Auch der lettische Präsident, Egils Levits, sagte zu dieser Zeitung:
«Vor hundert Jahren bedeutete Neutralität vielleicht etwas anders als im 21. Jahrhundert.»
Es ist offensichtlich: Wiewohl Bundespräsident Ignazio Cassis soeben das neue Begriffspaar der «kooperativen Neutralität» lanciert hat, dreht sich die Debatte über die schweizerische Neutralität in der Sache vor allem um die Frage der Waffenlieferungen an die ukrainischen Truppen zur Abwehr des russischen Angriffs. Wobei diesbezüglich die Position des Bundesrats bisher unverrückbar war: Die Lieferung von Rüstungsgütern aus Schweizer Produktion an die Ukraine ist ausgeschlossen. Und dies auch, wenn ein Land liefern möchte, das diese Güter früher in der Schweiz gekauft hat. Das Kriegsmaterialgesetz erlaubt dies nicht.
Genau darauf bezog sich die undiplomatische, offene Kritik Habecks an der Schweiz. Das Verbot betrifft nämlich die viel diskutierte Munition für den deutschen Flugabwehrpanzer Gepard. Ein anderes Beispiel ist die in Grossbritannien gefertigte Panzerabwehrlenkwaffe NLAW. In deren Gefechtskopf sich eine Hohlladung befindet, die ausschliesslich in Thun hergestellt wird, wie diese Zeitung bereits berichtet hat.
Diese restriktive Auslegung des Neutralitätsrechts könnte auf längere Sicht den Rüstungsstandort Schweiz in Frage stellen – und damit indirekt das Prinzip der bewaffneten Neutralität, das der Bund ebenfalls hochhält. Besteht nämlich die Schweiz auf dem Lieferverbot an die Ukraine, dürften es sich die internationalen Konzerne, welche die Rüstungsindustrie in der Schweiz beherrschen, gut überlegen, ihre Standorte hierzulande beizubehalten.
Nun liesse sich einwenden, die Schweiz komme auch ohne eigene Rüstungsindustrie über die Runden: Die Armee könnte doch einfach sämtliche Waffen im Ausland kaufen. Dem widerspricht freilich die offizielle Sicherheitspolitik des Bundes: Diese sieht vor, dass die Schweiz im Kriegsfall nicht nur auf Rüstungsgüter aus dem Ausland angewiesen ist, sondern andere Staaten auch auf Produkte aus der Schweiz. Diese gegenseitige Abhängigkeit soll die Versorgungssicherheit garantieren.
Kurz: Die Armee setzt auf eine eigene Rüstungsindustrie, die Voraussetzung der bewaffneten Neutralität ist – auf die sich der Bundesrat wiederum beruft, wenn er Waffenlieferungen verbietet. Es ist paradox.
Am Dienstag hat sich nun erstmals Verteidigungsministerin Viola Amherd am WEF in Davos zu dem Widerspruch geäussert – und einen gewissen Problemdruck eingestanden:
«Für die Rüstungsindustrie ist das sicher kein Vorteil.»
Das Szenario, dass die gesamte Rüstungsindustrie die Schweiz verlasse, halte sie zwar «für zu extrem». Aber: «Es ist ein Thema, das wir aus meiner Sicht in der Diskussion insgesamt berücksichtigen müssen. Wenn wir neutral sein wollen, brauchen wir im Bereich der Rüstung eine gewisse Autonomie.» Voraussetzung dafür sei die sicherheitsrelevante Technologie- und Industriebasis (STIP), die im Kontakt mit dem Bundesamt für Rüstung, Armasuisse, stehe und für inländisches Know-how sorge.
Auf Nachfrage skizzierte Amherd einen möglichen Ausweg: Das Parlament müsste das Kriegsmaterialgesetz schon wieder überarbeiten, nachdem es letztes Jahr die Exportbestimmungen verschärft hat. Die Reform trat auf den 1. Mai in Kraft. «Grundsätzlich», so sagte Amherd, «würde das Neutralitätsrecht einen sogenannten Ringtausch von Kriegsmaterial erlauben.»
Ein Land, das Waffen mit Bestandteilen aus der Schweiz bereits besitzt, dürfte diese an die Ukraine abgeben und dann in der Schweiz Nachschub für die eigene Truppe beschaffen. Nicht erlaubt wäre nach wie vor, Waffen aus der Schweiz direkt an die Ukraine weiterzugeben. Eine solch Gesetzesreform wäre freilich nicht kurzfristig realisierbar und könnte mit einem Referendum angefochten werden. Kurz: Eine kurzfristige Praxisänderung ist auch auf diesem Weg unwahrscheinlich.
Amherd machte diese Äusserungen am Rande einer Pressekonferenz in Davos, nachdem sie sich mit dem Generalsekretär der Nato, Jens Stoltenberg, zu einem Gespräch getroffen hatte. Auch wenn nun die beiden bisher neutralen Staaten Schweden und Finnland der Nato beitreten werden, solle die sogenannte «Partnerschaft für den Frieden» mit der Nato weitergeführt werden.
Dies habe ihr Stoltenberg zugesichert. Er habe ihr zudem signalisiert, dass die Nato offen sei, für einer weitergehende, vertiefte Kooperation auch mit der Schweiz. Konkret sei dies etwa im Bereich der Cyberabwehr möglich, denkbar wären auch zusätzliche Truppenübungen. Doch Amherd blieb diesbezüglich auch auf Nachfragen unverbindlich: Ihr Departement erstelle nun bis im Herbst einen Bericht, wo die Zusammenarbeit mit der Nato vertieft werden können.