Darum steigen die Sozialhilfe-Zahlen trotz Corona nicht
Langsam ist das Ende der Pandemie absehbar. Sie hat in fast allen Bereichen Spuren hinterlassen. Nur in der Sozialhilfe ist der Effekt derzeit nicht sichtbar, zumindest nicht bei den Fallzahlen. Das zeigt ein Monitoring der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos). Der Bericht bildet die Situation Ende Dezember 2021 ab. Die Fallzahlen sind entgegen den Befürchtungen während der Pandemie nicht gestiegen. Im Gegenteil: Sie sinken seit Sommer 2021 unter den Durchschnitt des Jahres 2019 – damals gab es Corona nicht. Wie kommt das?
Die Gründe sind unterschiedlich. Einerseits macht die Skos geltend, dass die Sozialwerke während der Krise ausgebaut wurden. So haben in den letzten zwei Jahren Bund und Kantone verschiedene Sicherheitsnetze aufgespannt, um die Folgen der Pandemie abzufedern und auch die Sozialhilfe zu schonen. Zum Beispiel mit Härtefallgeldern für Firmen, die Umsatzeinbussen hatten. Mit Corona-Erwerbsersatz für Selbstständige, mit Kurzarbeit oder mit verlängertem Anspruch auf Arbeitslosengelder.
Zudem geht in einigen Kantonen die Rückerstattung weiter als in den Skos-Richtlinien empfohlen, weshalb viele Menschen, die eigentlich auf Sozialhilfe angewiesen wären, diese nicht beantragen. Und ein dritter Grund: Es wird vermutet, dass viele Bedürftige keine Sozialhilfe beziehen wollen aufgrund der verschärften ausländerrechtlichen Bestimmungen.
Verstrickung zwischen Sozial- und Migrationspolitik
Deshalb hatte der Stadtzürcher Sozialvorsteher Raphael Golta im letzten Frühling eine Art parallele Sozialhilfe aufgezogen. Zwei Millionen Franken Steuergelder sollten über vier Hilfswerke an Sans-Papiers und bedürftige Migranten verteilt werden, die aus Furcht vor dem Verlust des Aufenthaltsstatus keine Sozialhilfe beziehen. Golta fing sich deswegen eine Aufsichtsbeschwerde ein, löste aber eine politische Debatte aus über die Bestimmungen der Schweizer Sozialpolitik. Er sagt: «Während der Pandemie machten Bilder die Runde, die lange Menschenschlagen zeigten bei der Lebensmittelabgabe – das entspricht nicht unserem Verständnis eines Sozialstaats.» Deshalb habe man sich darum bemüht, herauszufinden, welche Gruppen für Lebensmittel stundenlang Schlange stehen. «Es waren häufig Migrantinnen und Migranten, die ihre Armut verbergen aus Angst vor ausländerrechtlichen Konsequenzen», so Golta. Er spricht von einem Missstand: «Es darf nicht sein, dass die Sozialpolitik derart eng mit der Migrationspolitik verstrickt ist.»
Ähnlich sieht das auch Markus Kaufmann. Er ist Geschäftsführer der Skos und sagt: «Wir setzen uns dafür ein, dass beim Ausländerrecht nicht noch weiter verschärft wird.» Wer Sozialhilfe benötige, müsse Zugang dazu haben, ohne Nachteile zu befürchten oder sich lebenslang zu verschulden.
Der Bundesrat sieht derweil auf Druck des Parlaments zwei Verschärfungen im Gesetz vor. So soll die Sozialhilfe für Menschen mit einer Aufenthaltsbewilligung in den ersten drei Jahren ihres Aufenthalts in der Schweiz eingeschränkt werden. Zudem sollen die Integrationskriterien im Ausländer- und Integrationsgesetz verschärft werden. Die Kantone sollen zusätzlich prüfen, ob und wie Ausländer und Ausländerinnen die Integration der eigenen Familie fördern und unterstützen. Die Vernehmlassung zu diesen Gesetzesänderungen läuft bis am 3. Mai 2022.
Hilfsleistungen nicht auf einen Schlag streichen
Im Moment bezeichnet Kaufmann die derzeitige Situation bei den Sozialversicherungen als Ruhe vor dem Sturm: «Wir wissen aus früheren Erfahrungen, dass sich Krisen vor allem langfristig auf die Sozialhilfe auswirken.» Eine der grössten Sorgen für die Skos seien die Langzeitarbeitslosen, die seit mehr als einem Jahr nach einem Job suchen. Im Februar 2021 war ihre Zahl mehr als doppelt so hoch wie ein Jahr zuvor. Irgendwann werden sie ausgesteuert und müssen Sozialhilfe beziehen. Auch gesundheitliche Fragen beschäftige die Skos. Zum Beispiel: Wieviele Menschen fallen dereinst wegen Long Covid in die Sozialhilfe? Bereits gebe es 2000 Anmeldungen bei der Invalidenversicherung aufgrund von Long Covid, erklärt Kaufmann. «Das sind erste Indikatoren, die wir im Auge behalten müssen.» Aber es gebe auch Lichtblicke. «Die Corona-Hilfsmassnahmen haben zu einem grossen Teil verhindert, dass mehr Menschen in der Sozialhilfe landen. Und auf dem ausgetrocktenen Arbeitsmarkt fanden auch viele Sozialhilfebeziehende eine Anstellung», sagt der Skos-Geschäftsführer. Es sei wichtig, die Unterstützungsleistungen nicht sofort zu streichen, sondern langsam zurückzufahren.
Die Skos erwartet, dass Ende 2023 im Vergleich zu 2019 zusätzliche 37’400 Menschen Sozialhilfe beziehen werden. Das entspricht einem Anstieg von fast 14 Prozent und 535 Millionen Franken Mehrausgaben, 293 Millionen Franken davon sind coronabedingt.