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Ein Filmfest, das einander näherkommen lässt und zugleich in die Ferne schweift

Die 58. Ausgabe der Solothurner Filmtage ist mit einem guten Zuschauerzuspruch zu Ende gegangen. Sie hat auch gezeigt: Das Kino kann uns eine neue Nähe geben.

Man hätte die diesjährigen Solothurner Filmtage unter so manches Thema subsumieren können: Utopien in Kriegszeiten. Oder andere Sichtweisen auf die Welt durch einen filmischen Nachwuchs, dessen Wurzeln weit aus der Schweiz herausragen. Auch das Verhältnis von Nähe und Ferne zeigte sich gleich mehrfach, explizit wie exemplarisch. Nicht zuletzt sind die Zuschauer nach den Jahren der Einschränkungen durch die Pandemie dem Kino einen Schritt nähergekommen.

55’000 Eintritte meldeten die Veranstalter. Das ist nicht ganz auf dem Niveau wie in den Jahren vor der Pandemie, da waren es rund 65’000, doch man ist auf einem guten Weg. «Es zeigte sich, dass die Besucherinnen und Besucher, aber auch die Filmschaffenden ein grosses Bedürfnis hatten, sich wieder vor Ort zu treffen, sich auszutauschen und den Diskurs zu pflegen», sagte der künstlerische Leiter Niccolò Castelli zu seiner Premiere. Den Hauptpreis Prix de Soleure gewann der Film «Until Branches Bend» von Sophie Jarvis, den Publikumspreis erhielt «Amine – Held auf Bewährung» von Dani Heusser.

Schmerzgrenzen ausloten

Der Eröffnungsfilm vom vergangenen Mittwoch, dem Bundesrat Alain Berset witterungsbedingt fernbleiben musste, war ein gut getimtes politisches Statement, das stärker nachhallte, als es eine durchschnittliche Komödie vermocht hätte. «This Kind Of Hope» gab Einblicke in ein Land, das, ähnlich wie die Ukraine, geografisch relativ nahe liegt, aber als «letzte Diktatur in Europa» kaum ferner sein könnte: Belarus. Die Dokumentation von Pawel Siczek überzeugt weniger durch die Besonderheit der filmischen Mittel als vor allem durch ihren charismatischen Protagonisten.

Andrei Sannikov war nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein führender Diplomat des Landes, der in die Opposition wechselte, nachdem Lukaschenko die Macht als Präsident ergriff. Nach jahrelangem Gefängnisaufenthalt lebt der Aktivist nun mit seiner Familie im Exil in Warschau, von wo aus er versucht, für die Freiheit seines Heimatlandes zu kämpfen. Sannikov, seine Frau und die Filmcrew waren anwesend und wurden mit Standing Ovations in der Reithalle bedacht, ein bewegender, würdiger, gemeinsamer Moment.

Dass man beim Beisammensein auch Schmerzgrenzen ausloten kann, war bei «De Humani Corporis Fabrica» zu erleben. Was für einen Teil des medizinischen Personals Alltag ist – wenn auch nicht in der Veranschaulichung auf Leinwandgrösse –, konnte für so manch ungeprobten Magen eine Herausforderung darstellen. Der Dokumentarfilm von Verena Paravel und Lucien Castaing-Taylor zeigt ungeschönt Operationen in französischen Krankenhäusern. Der Mensch wird zur Maschine, die gleichzeitig feinmechanisch und grobmotorisch zerlegt werden kann, wie ein Auto.

Ganz tief dringt die Kamera in den Körper ein, direkt vor uns sind Fleisch, Adern, Knochen. Die linke Sitznachbarin verkriecht sich beim Kaiserschnitt im Pulli ihres Freundes, der rechts nimmt die Brille ab, als ein Katheter in einen Penis eingeführt wird. Doch der Film ist mehr als «Körperwelten» fürs Kino, er demonstriert den Triumph des menschlichen Geistes – und seine Grenzen. Bei der vielleicht entsetzlichsten Stelle sehen wir den Patienten einer Anstalt, der zwanghaft die gleichen Worte wiederholt und nur durch viel sanfte Überzeugungsarbeit in sein Zimmer, seine Zelle, zurückgeschoben werden kann.

Endlich Sex im Schweizer Film

Um Intimität ging es einmal auch im neuen Gesprächsformat, dem Fare Cinema, das jeweils morgens im «Kreuz» stattfand. Zu Kaffee und Gipfeli wurden Erfahrungen mit Sexszenen am Set ausgetauscht. Ja, der Schweizer Film hat in letzter Zeit tatsächlich eine neue erotische Sinnlichkeit entdeckt. So in «99 Moons» von Jan Gassmann, bei dessen Dreh eine Intimitätskoordinatorin herangezogen wurde, die Regeln festlegt und Vertrauen schafft, aber ebenso dabei helfen kann, die Figurenentwicklung voranzutreiben.

Ohne klares Drehbuch kam hingegen der wilde, queere «De noche los gatos son pardos» aus, bei dem Regisseur Valentin Merz sich auch selbst vor der Kamera auszog. Für «Foudre» von Carmen Jaquier wurde der Mut zum sexuellen Erwachen belohnt, er gewann den Opera Prima für den ersten Langfilm.