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Wird die neue HBO-Serie «House of the Dragon» noch grösser als «Game of Thrones»?

Die Crew von «House of the Dragon» spricht in London über das monumentale Serienbaby von HBO, das neu aus dem Drachenei schlüpft.

Drachen sind fantastisch. Sie lassen sich wechselweise als Flugzeug, Feuerzeug, Heizung oder Atombombe benutzen. Jedenfalls sagt der Schriftsteller George R. R. Martin, der die Drachen des «Game of Thrones»-Universums erfunden hat: «Ein Drache entspricht der atomaren Macht.» Das Haus Targaryen wird im Laufe von «Game of Thrones: House of the Dragon», so der ganze Titel des neuen gigantomanischen Serien-Unternehmens von HBO, insgesamt 17 Drachen besitzen. Allein neun davon soll es in der ersten Staffel zu sehen geben. Kein Wunder, sind die Targaryens der mächtigste Clan eines Reichs namens Westeros. Ihr einziger echter Feind sind sie selbst. Alle anderen werden gegrillt.

Die Targaryens sind blond, arisch und fühlen sich den Göttern näher als den Menschen. «Das Problem mit den Targaryens ist, dass sie in der absoluten Überzeugung leben, immer recht zu haben. Sie leben in totaler Selbstherrlichkeit. Was Teil ihres Untergangs sein wird», erklärt Miguel Sapochnik, Regisseur und ausführender Produzent von «House of the Dragon».

Wir sind in London, im Corinthia Hotel neben dem Trafalgar Square. Die Zimmerpreise beginnen hier bei 900 Pfund, der Speisesaal ist eine Mischung zwischen Versailles und Raumschiff, daneben stecken junge Frauen, die alle aussehen, als seien sie von einer Modelagentur gecastet, Blumen in teure Gefässe. Die Dekadenz des Hotels passt zur Dekadenz der Serie. Im ersten Stock ist der PR-Marathon des grössten neuen Serien-Ereignisses der Welt im Gang. Der Presse-Andrang ist riesig.

So viel darf schon mal verraten werden: Es wird in «House of the Dragon» nur so wimmeln von blutrünstigen blonden Menschen und ihrem Gewürm, von Sex und Gewalt. Turniere werden geritten, Gliedmassen werden amputiert, der entsetzlichste Kaiserschnitt der Seriengeschichte wird vollzogen werden. Apokalyptische Schauer werden sich über die Welt legen, Drachen werden Heere versehren, Krebse werden Menschen fressen.

Doch zwischen dem Adrenalin-Getöse wird es zur Erholung richtig langweilige, semi-depressive Problemgespräche über Berufung zu Höherem, Freundschaft und Familienkram geben. Die muss man aussitzen. Und ein spitzzüngiger Zyniker wie Tyrion Lannister wird schmerzlich vermisst.

HBO wird zu einem Gender-Seminar

In «Game of Thrones» kämpften (unter anderen) die aufrichtigen Starks, die inzestuösen Lannisters und Daenerys Targaryen, die ihr Hochzeitsgeschenk, drei Dracheneier, selbst ausgebrütet hatte, um den Thron von Westeros. Und aus dem Norden drohte die Klimakrise des ewigen Winters samt Eiszombies.

«House of the Dragon» beginnt exakt 172 Jahre vor der Geburt von Daenerys Targaryen. Der harmoniesüchtige König Viserys Targaryen braucht einen Nachfolger, hat bis jetzt aber erst eine Tochter, was in einem streng patriarchalen Staat keine Option ist, und seine Frau, die zum fünften Mal schwanger ist, hat keinen Bock mehr, eine dynastische Gebärmaschine zu sein. Tochter Rhaenyra will lieber Ritter statt Mutter werden, lebt in Symbiose mit ihrem Drachen, stinkt auch immer nach Drachen und hat eine beste Freundin namens Alicent Hightower, die sich für Politik interessiert.

Emma d’Arcy, 30, spielt die erwachsene Prinzessin Rhaenyra. Emma d’Arcy ist non-binär, und noch nie wurde eine non-binäre Person so prominent eingesetzt. Fühlt sie sich zu irgendwas verpflichtet? «Meine Pflicht ist es herauszufinden, wer diese Person im Drehbuch vor mir ist. Meine eigene Identität hat da keine Rolle zu spielen. Aber klar, Rhaenyra wird von frühester Kindheit an deutlich gemacht, dass Männer und Frauen einen anderen Platz in der Gesellschaft haben. Und natürlich dachte ich als junge Person auch, dass ich keinen Platz im Schauspiel-Business habe. Aber hey, es gibt einen!»

Emma und Olivia Cooke (28), die erwachsene Alicent Hightower, sagen, wie es ist, stundenlange Interviews zu geben, ohne wirklich etwas Essenzielles verraten zu dürfen: «Seit Monaten erzählen wir blumiges Nichts», so Cooke. Im Grunde wären Rhaenyra und Alicent, die Drachenreiterin und die Politikerin, ideale gemeinsame Herrscherinnen für Westeros. «Selbstverständlich!», sagt Olivia Cooke, «genau das hätte eigentlich geschehen sollen!» «Das Patriarchat hat auf heimtückische Weise begriffen, dass man tiefe weibliche Freundschaften zerstören muss, um männliche Macht zu verfestigen», sagt Emma d’Arcy. So funktioniert das auch am Hof der Targaryens.

Sind wir hier eigentlich im Gender-Seminar? Ja, ein bisschen. HBO ist jetzt so drauf. Sapochnik formuliert das so: «Ich habe die Verantwortung, eine fiktionale Welt so darzustellen, dass sie auch die Welt, in der wir leben, mitreflektiert. Anders kann ich mir das nicht vorstellen, und es gibt keine Entschuldigung, das nicht zu tun. ‹House of the Dragon› ist Fantasy, es geht überhaupt nicht um die historisch korrekte Darstellung einer bestimmten Vergangenheit, weshalb also sollten wir da nicht inklusiv sein?» Das stimmt, und das ist auch tatsächlich der Vorteil von Fantasy. Man könnte es aber auch anders formulieren. Man muss mit allem alle erreichen. Wunscherfüllung allüberall.

Dass nicht alle Fans so denken wie Sapochnik, musste Steve Toussaint erfahren, nachdem bekannt wurde, dass er für die Rolle des Lord Corlys Velaryon gecastet worden war. Velaryon, auch bekannt als «The Sea Snake», die Seeschlange, ist der reichste Mann von Westeros, ein Seefahrer, Abenteurer und Befehlshaber einer riesigen Flotte. Vor allem aber ist er mit Prinzessin Rhaenys Targaryen verheiratet, der Cousine von König Viserys, die selbst auf dem eisernen Thron sitzen würde, wenn sie nur ein Mann wäre.

Toussaint ist schwarz. Unter Fans entspannt sich eine erbitterte Debatte, ob ein schwarzer Schauspieler ein Mitglied einer weissen Elite darstellen dürfe. «Es hat mich überrascht. Und es hat mich nicht überrascht», sagt Toussaint, «ich bin schon mein ganzes Leben lang ein schwarzer Mann, ich habe viel Erfahrung mit solchen Reaktionen. Aber ich war schockiert, wie schnell es passierte. Innerhalb von Sekunden, nachdem meine Wahl bekannt wurde, war das N-Wort in der Welt.»

Der Britische Schauspieler Steve Toussaint spielt ein Mitglied einer weissen Elite.
Keystone

Widersprüchlichkeit als Mittel gegen den Faschismus?

Der Geniestreich von «Game of Thrones» ist die Shakespeare’sche Anlage der Figuren, die auch jetzt wieder zählt: Dass alle böse und gut zugleich sind. Widersprüchlich, fehlerhaft, komplex. Dass man sie hasst und liebt. Sapochnik sieht darin nicht nur einen unterhaltungs-, sondern auch einen toleranztechnischen Ansatz. Mit dem vielleicht sogar der Faschismus zu besiegen sei: «Ich hasse Faschisten. Aber ich denke, wenn wir die Menschlichkeit in Menschen entdecken zu vermögen, mit denen wir im Grunde keinen Umgang haben wollen, gelingt es uns vielleicht eher, zu ihnen vorzudringen? Aber ich bin mir nicht sicher.» Ist das jetzt weise, naiv oder sehr naiv?

Der Bösewicht, dem man beim Zuschauen unweigerlich erliegt, trägt das Dämonische bereits im Namen, Daemon Targaryen nämlich, der jüngere Bruder des Königs und Onkel von Rhaenyra. Er schenkt seiner Nichte ein Collier aus valyrischem Stahl, jenem Metall, aus dem schon in «Game of Thrones» die besten Waffen geschmiedet waren. Gespielt wird er von Matt Smith, es ist seine zweite Prinzenrolle nach Prinz Philip in «The Crown». Und er beherrscht das Fiese, Überhebliche, Brutale vorzüglich.

Das Erstaunlichste ist, wie sehr Smith seinen Daemon liebt. Wie weich, fast zärtlich seine Stimme wird, wenn er über einen Mann redet, der seinen «ganz eigenen moralischen Kompass» hat und ein «loyaler Familienmensch» sei, dem «Blutsbande» alles bedeuten und «dessen Sensibilität und Empfindsamkeit das stumpfsinnig Männliche bei weitem überwiegen». Ehrlich? Ganz ehrlich?

Und da sind wir nun. Auf der Höhe eines Reichs, dessen Wohlstand, Technologie und Hybris seinesgleichen suchen. Bereit, sehr tief zu fallen. Ob «House of the Dragon» too big to fail sein wird, muss sich noch weisen, doch das Gegenteil ist fast nicht denkbar. «HBO fragte mich, was ich besser machen möchte als in ‹Game of Thrones›», sagt Sapochnik, «ich antwortete: Was nicht kaputt ist, soll man nicht reparieren.»

Das hätten sich die Targaryens auch mal sagen sollen. Aber dann wäre die Welt um ihren grössten eskapistischen Zirkus ärmer. Und vielleicht ist eh alles ganz anders. Vielleicht ist «House of the Dragon» nichts als eine monumentale Shampoo-Werbung, und wir haben es bloss noch nicht gemerkt.