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Streikleitung kapituliert um Mitternacht

1910er-Jahre Die Situation zum Ende des Ersten Weltkrieges war aufgewühlt. Der Bundesrat fürchtete linke Putschversuche und liess Truppen aufmarschieren. 1918 kam es zum Landesstreik. Das freisinnige ZT hält zum freisinnigen Bundesrat.

November 1918: Es lag etwas in der Luft. Das ZT berichtete in der Ausgabe vom 6. November von einem «ausserordentlichen Truppenaufgebot. […] Die ausserordentliche Massnahme des Bundesrates charakterisiert den Ernst der Situation an unserer Ostfront. Die Massen der aufgelösten österreichisch-ungarischen Armeeverbände sind im Zurückfluten gegen das Grenzgebiet, wo sie vom verstärkten Grenzschutz aufgehalten werden müssen, sollen nicht schweizerische Gebiete der Schauplatz von Plünderungen werden, unter denen das Tirol bereits zu leiden hat.» In derselben Ausgabe wurde gar von der «Gefahr der Weltrevolutionierung» und einer «Putschansage für die Schweiz auf Ende November» geschrieben.

Dieser Text stammt aus der Sonderbeilage «150 Jahre Zofinger Tagblatt» vom 1. Februar 2023, in der jeweils ein Ereignis aus jedem Jahrzehnt seit der ersten Ausgabe des ZT vertieft betrachtet wird.

Am folgenden Tag, dem Jahrestag der bolschewistischen Revolution in Russland, fragte das ZT im Titel: «Rüttelt der Sturm am Schweizerhaus?» Denn der Bundesrat hatte weitere Armee-Einheiten mobilisiert. In Zürich, laut ZT der «schweizerische Revolutionsherd», sorgten Bombenfunde und Revolutionszeichen für Aufregung. Eine Delegation des Zürcher Regierungsrates traf sich deshalb gemäss ZT vom 7. November mit dem Bundesrat. «Allgemein war man der Ansicht, dass unser Land, das bisher von den Schrecken des Krieges verschont geblieben ist, in dem Momente, da der Weltkrieg in den letzten Zuckungen zu liegen scheint, die grösste Gefahr läuft, noch zuletzt in den allgemeinen Strudel hineingezogen zu werden.» Daher seien zum Schutze des Landes Truppen aufzubieten.

Die einmarschierenden Kavallerie-Einheiten sorgten unter der Zürcher Arbeiterschaft für Empörung. Das Oltener Aktionskomitee (OAK) rief noch am selben Tag zu einem Proteststreik auf, der am 9. November, einem Samstag, in 19 Schweizer Industriezentren (Zürich, Basel, Bern, Winterthur, Arbon, Schaffhausen, Aarau, St. Gallen, Luzern, Oerlikon, Olten, Baden, Biel, La Chaux-de-Fonds, Le Locle, Lausanne, Genf, Grenchen und Solothurn) ruhig verlief. In Zürich wollte die Arbeiterunion den Protest bis zum Abzug des Militärs aus der Stadt weiterführen. Am Sonntag kam es dann zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Soldaten und Demonstranten. Unter dem Eindruck dieser Ereignisse rief das OAK für Dienstag, 12. November, einen unbefristeten landesweiten Generalstreik aus.

Inserat des Zofinger Gemeinderates im ZT vom 14. November 1918: «Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass das Truppenaufgebot lediglich zum Schutze der Arbeitswilligen und zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung erfolgt ist.»

«Proklamierung des ­allgemeinen Landesstreiks»

In der Ausgabe vom 11. November nahm das freisinnige ZT die wichtigsten Forderungen des OAK auf: sofortige Neuwahl des Nationalrats gemäss dem am 13. Oktober angenommenen Proporzwahlrecht, Einführung des aktiven und passiven Frauenwahlrechts, allgemeine Arbeitspflicht, die 48-Stunden-­Woche, eine Armeereform, die Sicherung der Lebensmittelversorgung, eine Alters- und Invalidenversicherung, ein staatliches Aussenhandelsmonopol sowie eine Vermögenssteuer zum Abbau der Staatsverschuldung.

Mitten im Landesstreik kommt das Ende des Ersten Weltkrieges: «Das Kriegsende. Unterzeichnung des Waffenstillstandes für die Westfront; Einstellung der Feindseligkeiten auf der ganzen Linie», schrieb das ZT am 12. November. Über die Auswirkungen des Landesstreiks auf Zofingen finden sich ebenfalls einige Zeilen in besagter Ausgabe: «Nur wer Reisebedürfnisse hat, fühlt den Generalstreik. Der Zugsverkehr ist lahmgelegt, auch auf den Zofingen berührenden Linien. […] Im Übrigen zeigt Zofingen keine Veränderungen. Sozusagen in allen Betrieben geht die Arbeiterschaft wie gewohnt ihrer Aufgabe nach. Und das ist gut so. […] Die Bundestreue unserer Bevölkerung bekundet sich in spontaner, erfreulicher Weise.»

Der Landesstreik verlief ruhig

Am ersten Tag habe der Schweizerische Gewerkschaftsbund gemäss Historischem Lexikon der Schweiz (HLS) etwa 250 000 Streikende gezählt, ­darunter auch Eisenbahner (siehe auch Artikel aus dem ZT vom 12. November). Mit ihnen gelangte der Landesstreik auch in ländliche Gebiete. In der Westschweiz sowie im Tessin fiel der Streikaufruf nicht auf fruchtbaren Boden. «Allgemein verlief der Landesstreik ruhig, hatten doch die Arbeiterorganisationen zum Teil flankierende Massnahmen wie Alkoholverbote durchgesetzt», schreibt Bernard Degen im HLS. «Nur an wenigen Orten geriet die Lage, in der Regel nach Aufmärschen des Militärs, kurzfristig ausser Kontrolle, am folgenschwersten in Grenchen, wo am 14. November drei Streikende erschossen wurden.»

Am 13. November stellte der Bundesrat den Streikenden ein Ultimatum und forderte den bedingungslosen Streikabbruch. Das OAK fürchtete ein stärkeres Eingreifen der Armee und entschloss sich daher in der Nacht zum Donnerstag, 14. November, den Generalstreik für beendet zu erklären. Das ZT schrieb dazu am 15. November: «Die Arbeiter verweigern in wachsender Zahl die Gefolgschaft. […] Heute Freitag morgen ist der Streik in aller Form beigelegt. Ein Lokomotivenpfiff verkündete in früher Morgenstunde hochgemut dem ganzen Wiggertal, dass die Bahnen ihren normalen Betrieb wieder aufgenommen haben. Das war das Signal für die gesamte Arbeiterschaft den Werkstätten zuzuströmen.»

Das ZT verkündete in der Ausgabe vom 14. November 1918 die Kapitulation der Streikleitung, womit der Landesstreik per sofort beendet wurde.

Einige der Forderungen werden umgesetzt

In der Folge mussten sich mehr als 3500 Personen vor der Militärjustiz verantworten, 147 wurden verurteilt. Robert Grimm, Friedrich Schneider und Fritz Platten vom OAK sowie Ernst Nobs erhielten Haftstrafen. Trotz des scheinbaren Misserfolgs wurden einige der Forderungen in den folgenden Jahren umgesetzt: Bereits 1919 wurde die 48-Stunden-Woche eingeführt und «nicht zuletzt wegen der Erfahrung des Landesstreiks waren die Behörden im Zweiten Weltkrieg von Anfang an auf ein Mitwirken der Arbeiterorganisationen an der Kriegswirtschaft bedacht und räumten dem Verteilungsproblem hohe Priorität ein», wie das HLS bilanziert. Und ebenfalls während des Zweiten Weltkrieges fiel der Entscheid, eine AHV ins Leben zu rufen.