Aargauer Regierung: Stromaggregate und Wasserkraftreserve nutzen, Notkraftwerk Birr ist letzte Option
Die Regierungsräte Stephan Attiger (Umwelt- und Energiedirektor) und Dieter Egli (Volkswirtschaftsdirektor) haben an einer Medienkonferenz in Aarau Forderungen an den Bund zum im Bau befindlichen Notkraftwerk in Birr gerichtet. Man begrüsse und unterstütze grundsätzlich die Stossrichtung der vom Bund in die Vernehmlassung gegebenen Winterreserveverordnung, hiess es an der Medienkonferenz. Diese steckt den Rahmen für das Notkraftwerk Birr ab.
Standort des grössten und immissionsträchtigsten Reservekraftwerks
Der Aargau ist mit dieser geplanten Anlage Standortkanton des grössten und immissionsträchtigsten Reservekraftwerks der Schweiz. «Der Aargau nimmt damit national seine Verantwortung als Energiekanton wahr und ist auch bereit dazu, in einem gewissen Rahmen die damit verbundenen Lasten zu tragen», so Stephan Attiger. Aber die im Freien aufgestellten Turbinen des Kraftwerks stellten für die Bevölkerung und Umwelt eine grosse Lärm- und Luftbelastung dar.
Deshalb fordert der Kanton Aargau, dass zuerst alle anderen Optionen ausgeschöpft werden, zum Beispiel die Wasserkraftreserve beziehungsweise Notstromaggregate, bevor das Reservekraftwerk Birr zum Einsatz kommt. Attiger: «Alles andere würde die Bevölkerung hier nicht verstehen, zumal in der Nähe ein Schulhaus steht.» Er erwartet, dass das Notkraftwerk – auch falls es diesen Winter nicht gebraucht werden sollte – nach dem Aufbau zu Testzwecken kurze Zeit laufen wird: «Dann sehen wir, wie die Lärmbelastung genau ist, und ob es zu Lärmschutzklagen kommt.»
Das Notkraftwerk in Birr sei nur als kurzfristige Notlösung für die Winter 2022/23 bis 2024/25, so der Regierungsrat in Richtung Bund und fordert für die Folgewinter andere Lösungen.
Bundesrätin Sommaruga sagte zu, alles für möglichst tiefe Emissionen zu tun
Dieses Kraftwerk in Birr stellt für die Gemeinde und die Bevölkerung eine grosse Lärm- und Luftbelastung dar. Insbesondere müsse der gesetzliche Zeitrahmen während der Nacht (19 bis 7 Uhr) für den Beurteilungspegel für die Schallimmission so weit als möglich eingehalten werden, so die Forderung.
Energieministerin Simonetta Sommaruga habe zugesagt, alles zu tun, um die Emissionen in Birr möglichst tief zu halten, sagt Stephan Attiger auf Nachfrage: «Die Frage ist bloss, was alles in der kurzen verbleibenden Zeit gemacht werden kann? Auftraggeber ist der Bund, gebaut wird von GE, wer der Betreiber sein wird, wissen wir noch nicht. Wir als Aufsichtsbehörde schauen natürlich sehr genau hin.»
Kommen die Schalldämpfer für das Notkraftwerk rechtzeitig?
Offenbar werde es schwierig, die nötigen Schalldämpfer rechtzeitig zu bekommen, sorgt sich Attiger. Die brauche es aber. Weitere Schutzmöglichkeiten seien eine Lärmschutzwand, eine Inhouse-Lösung oder Schallschutzfenster für umliegende Gebäude. Attiger macht klar: «Ohne genügenden Schallschutz wäre der Betrieb für die Bevölkerung unzumutbar.» Zudem solle man in Bern jetzt schon schauen, was man für den Winter 2023/24 dann nachrüsten kann, da habe man ja mehr Zeit für eine sorgfältige Vorbereitung.
Nicht einfacher wird es für den Aargau, weil Simonetta Sommaruga Ende Jahr zurücktritt. Die Nachfolgewahl erfolgt in der Wintersession. Doch erst nach der Departementsverteilung weiss Attiger, wer sein neuer Ansprechpartner oder seine neue Ansprechpartnerin im Uvek sein wird.
Er erachtet das Reservekraftwerk als Notlösung nur für die Winter 2022/23 bis 2024/25. Es müsse so rasch als möglich, spätestens 2026, ersetzt werden. Gemäss neuesten Erkenntnissen könnte in der heute bereits in Birr existierenden Kraftwerksanlage eine reguläre bis 350-Megawatt-Gasturbine 2025 in Betrieb genommen werden – aber natürlich auch nur als «Peaker», betont Attiger.
Abschaltungen planbar machen und entschädigen
Die umweltfreundlichste und effizienteste Art, die Stromversorgung zu entlasten, sei der freiwillige Verzicht auf Strombezug, wird weiter gesagt. Der Aargau regt deshalb beim Bund ein System für frühzeitige, planbare und günstig zu erwirkende freiwillige Kontingentierungen an. So könne die Stromnachfrage wirksam gesteuert werden.
Vor allem bei industriellen Grossverbrauchern könne durch das gezielte und frühzeitig planbare Ab- und Zuschalten von Lasten gegen Entschädigung ein grosses Potenzial genutzt werden. Dabei seien Missbrauchsrisiken und Arbeitnehmendenschutz zu berücksichtigen.
Müssen die SBB bei Stromabschaltregime den Betrieb einstellen?
Als Ultima Ratio bei einer Strommangellage sind zyklische Netzabschaltungen vorgesehen (regional vier Stunden kein Strom, dann vier oder acht Stunden Strom). Bei der Eventualplanung habe die kantonale Taskforce festgestellt, dass bei Stromabschaltungen versorgungsrelevante Verbraucher wie zum Beispiel Altersheime oder andere Gesundheits- und Betreuungseinrichtungen (zum Beispiel Arztpraxen) aus technischen Gründen nicht ausgenommen werden könnten, so Attigers Generalsekretär Maurus Büsser.
Bei Kommunikationsinfrastruktureinrichtungen könne regelmässiges Ein- und Ausschalten zu Systemschäden führen; dadurch müssten der öffentliche Verkehr und systemkritische Produktionsbetriebe – unabhängig von der Stromverfügbarkeit – den Betrieb einstellen. das sagte Adrian Schwammberger von der AEW Energie AG. Dies, weil das Zugsicherungssystem der SBB dann ausfallen könnte. Die WSB würde in diesem Fall auf Busbetrieb umstellen, falls dann die Barrieren nicht mehr funktionieren sollten, so Schwammberger.
Forderung: notfalls lieber verstärkte Kontingentierung statt Abschaltungen
Der Regierungsrat erwartet deshalb, dass der Bund die Massnahme der zyklischen Netzabschaltung überarbeitet. Genug Energie sparen könnte man doch zum Beispiel auch mit verstärkter Kontingentierung, so sein Vorschlag. Netzabschaltungen seien unbedingt zu vermeiden, die Schäden wären zu gross.
Nun zeigt eine neue Studie des Bundes, dass es gemäss aktuellen Einschätzungen im Winterhalbjahr 2022/23 wahrscheinlich nicht zu einer Strommangellage kommt. Was bisher eingeleitet wurde, bleibe aber notwendig, auch um Risikoszenarien meistern zu können, etwa falls ein AKW ungeplant länger ausfallen sollte, hiess es dazu in Aarau. Das kantonale Krisenmanagement wird aufrechterhalten.
Grosse Auswirkungen für Wirtschaft und Bevölkerung
Steigende Energiepreise verteuern die Lebenshaltungskosten und die Produktionskosten bei den Unternehmen. Der Regierungsrat verzichtet jedoch auf weitere Unterstützungsmassnahmen und lehnt eine Motion der Fraktionen SP, Grüne und FDP vom 6. September ab, wie Regierungsrat Dieter Egli sagte. Die Motion verlangt zusätzliche Massnahmen, um den Folgen der steigenden Energiepreise und der Teuerung entgegenzuwirken.
Egli verwies darauf, dass im Aargau die kalte Progression jährlich ausgeglichen wird. Zudem wird der per 2022 um 50 Prozent erhöhte Versicherungsabzug 2023 den Prämienentwicklungen angepasst, steigt also erneut. Auch in der Sozialhilfe wird die Teuerung jährlich ausgeglichen.
Der Regierungsrat werde jedoch Massnahmen zur Abfederung für Unternehmen prüfen, die von behördlich verordneten Nutzungsverboten, Kontingentierungen oder Netzabschaltungen erheblich betroffen wären.