Notfalls sollten sie ihn mit Messern verteidigen: Neue Details über den Ex-Präsidenten zeichnen ein düsteres Bild
Viele Menschen in Südkorea verbrachten die Nacht von Dienstag auf Mittwoch schlaflos. Das Land fragte sich: Wie wird es diesmal ausgehen? Schreckt die Polizei erneut zurück, zieht unvollendeter Dinge ab? Oder wird sie den Mann, der mit dem Kriegsrecht gespielt hat, aus dem Gebäude ziehen, wo er sich über Wochen verschanzt hat? Kurz nach halb elf Uhr Ortszeit herrschte in Seoul Klarheit: Ein Konvoi schwarzer SUVs verliess mit Polizeigeleit die Anlage. In einem der Autos sass Yoon Suk-yeol.
In der noch jungen Demokratiegeschichte Südkoreas – bis 1987 stand das Land unter der Macht des Militärs – ist es das erste Mal, dass ein formell noch amtierender Präsident verhaftet wurde. Der erste Versuch war es aber nicht. Schon am 3. Januar hatte Yoons Sicherheitsdienst, der die Präsidentenresidenz beaufsichtigt, Polizisten und Beamte der Anti-Korruptionsbehörde daran gehindert, dass ein Haftbefehl gegen Yoon durchgeführt wurde. Am Mittwoch dann liess sich Yoon letztlich doch ausliefern.
Der Hintergrund: Am 3. Dezember hatte der Rechtspopulist Yoon, seit 2022 Präsident Südkoreas, überraschend das Kriegsrecht ausgerufen. Die liberale Opposition sei vom Feind in Nordkorea durchsetzt, behauptete er als Begründung, ohne Beweise zu liefern. Yoon liess daraufhin das Parlament durch Soldaten verriegeln, was aber nicht gelang. Oppositionelle Parlamentarier stürmten binnen kurzer Zeit das Gebäude und votierten gegen das Kriegsrecht, womit es zurückgenommen wurde.
Verhaftungslisten, Schüsse, Messer
Ende Dezember beschloss das Parlament – auch mit wenigen Stimmen von Yoons rechtsgerichteter People Power Party (PPP) – die Amtsenthebung Yoons. Seither liegt der Fall beim Verfassungsgericht, das Yoon am Dienstag für den ersten Termin vorgeladen hatte. Der 64-jährige aber schwänzte. Festgenommen wurde Yoon nun im Zuge eines Verfahrens wegen Hochverrats. Mit seiner Kriegsrechtserklärung hatte Yoon Soldaten beordert, zu schiessen. Auch Verhaftungslisten politischer Gegner gab es.
In einer Videobotschaft an seine Unterstützer – die seit Wochen zu Tausenden vor seiner Residenz protestiert haben – sagte Yoon, seine Festnahme sei zwar illegal, aber er wolle «ein unglückliches Blutvergiessen» verhindern. Auch zahlreiche rechte Youtuber, die mit Verschwörungstheorien hantieren, stellen sich gegen die Festnahme. Eine deutliche Mehrheit im Land aber ist dafür. Der öffentliche Sender KBS zeigte in einer Umfrage zuletzt, dass gut 70 Prozent die Kriegsrechtserklärung als «schwere Straftat» ansehen.
Ausgestanden ist die seit Wochen andauernde Staatskrise Südkoreas damit aber noch lange nicht. Mit der Verhaftung haben die Behörden nun 48 Stunden Zeit, Yoon zu verhören, ehe entschieden wird, ob er freigelassen oder erneut verhaftet wird. Am Mittwoch jedenfalls verweigerte der Mann, der vor seinem hauchdünnen Wahlsieg zum Präsidenten 2022 Generalstaatsanwalt war und einen Ruf als harter Strafverfolger hatte, zunächst die Aussage.
Stattdessen veröffentlichte Yoon noch nach seiner Festnahme über Facebook Bilder eines handgeschriebenen Textes, wo unter anderem zu lesen war: «Kriegsrecht ist keine Straftat. Kriegsrecht ist die Ausführung präsidialer Autorität, um eine nationale Krise zu überwinden.» Das Vorgehen der Opposition – die im Parlament die Mehrheit hat und damit viele von Yoons Gesetzesvorhaben verhindert hat – sei «absurd».
Dabei ist die Evidenz gegen Yoon, der als Präsident die Staatsanwaltschaft selektiv gegen seine politischen Gegner einzusetzen schien, erdrückend. Neben den Verhaftungslisten politischer Gegner und der Autorisierung für Soldaten, zu schiessen, berichten südkoreanische Medien seit dieser Woche auch, dass Yoon selbst bei der Verhinderung seiner Verhaftung zu Gewalt aufgerufen habe. Wenn es mit Schusswaffen nicht gehe, dann solle sein Personal Messer einsetzen, heisst es in mehreren Berichten.
Trotz Chaos keine Schüsse
Der Umgang mit dieser Staatskrise offenbart aber auch, dass es im ostasiatischen Land – mit seiner Diktaturgeschichte und den Erfahrungen von Polizeigewalt – grosse Berührungsängste vor allzu hartem Durchgriff des Staates bestehen. So sind weder bei der Festnahme Yoons noch am Abend der Kriegsrechtserklärung am 3. Dezember, trotz hoher Anspannung, Schüsse gefallen.
Andererseits offenbart sich eine Krise innerhalb der Exekutive, von Polizei bis Militär, mit der sich das Land noch wird auseinandersetzen müssen: Denn die Durchsetzung des Haftbefehls gegen Yoon scheiterte zunächst, weil staatliches Sicherheitspersonal gegen staatliches Sicherheitspersonal stand. «Dass der Haftbefehl nicht umgesetzt werden konnte, lässt sich teilweise mit der starken Hierachiehörigkeit erklären», sagt Kristian Brakel, der in Seoul das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung leitet.
«Wichtiger ist aber wohl, dass auch vonseiten der amtierenden Regierung immer noch sich widersprechende Signale ausgehen», so Brakel. «Man wirft der Opposition vor, die Situation ausnutzen zu wollen.» Yoons rechte PPP will offenbar Neuwahlen vermeiden, die aber ausstehen, wenn das Verfassungsgericht entscheidet, dass die Amtsenthebung Yoons durch das Parlament rechtens gewesen ist. Die liberale Oppositionsführerin Demokratische Partei (DP) hingegen drängt auf ein schnelles Verfahren.
Insgesamt sind diejenigen, die Yoons Verhaftung bejubeln, in Südkorea in der Überzahl. «Immer, wenn ich mir von der Arbeit etwas freie Zeit nehmen kann, bin ich zu den Demonstrationen gegen Yoon gegangen», sagt die 50-jährige Lee Hana. «Die Proteste sind so inspirierend und machen mir Mut für die Zukunft.» Wobei Lee auf der Strasse auch schon mit Yoon-Unterstützern zusammengeraten ist. «Einmal standen sie uns auf der Strasse gegenüber, blockierten uns den Weg und schrien uns an.»
So wird Südkorea auch in den nächsten Wochen um die Wahrheit kämpfen, denn es stehen sich zwei kaum versöhnliche Lager gegenüber: die Unterstützer der rechten PPP und diejenigen, die es mit der liberalen DP halten. Südkoreas Staatskrise könnte – selbst wenn sie auf juristischer Ebene nun in geordnete Bahn gelenkt wird – auf politischer Ebene noch viel länger anhalten.