«Kein Witz: Ich trainiere bei YB»: Die unglaubliche Geschichte von FCA-Ersatzgoalie Nicholas Ammeter
Es ist im Sommer 2005, als der in New York geborene Nicholas Ammeter kurz nach dem Umzug der Familie in die Schweiz erstmals ein Fussballstadion betritt. Seine Cousins nehmen den damals Vierjährigen mit ins Aarauer Brügglifeld, doch mit der Kleidung seiner Begleiter kann er nichts anfangen: «Sie trugen FCB-Schals und ich weiss noch genau, wie ich mich darüber aufregte.»
Die richtige Einstellung hat Ammeter also schon mal, sollte er heute tatsächlich im Spitzenspiel zwischen YB und dem FC Basel das Tor der Berner hüten. Ob es so weit kommt oder ob Leandro Zbinden den Vorzug erhält, liess YB-Trainer David Wagner offen. Doch die Tatsache, dass am vergangenen Wochenende beim Heimspiel gegen Sion Ammeter auf der Bank sass und in den Schlussminuten für den verletzten Guillaume Faivre aufs Feld kam, spricht für ihn.
Es wäre eine unglaubliche Geschichte: Die ersten Stadionbesuche im Brügglifeld infizieren Ammeter, der noch immer bei den Eltern im benachbarten Zelgli-Quartier wohnt, mit dem FCA-Virus. Sein Jugendheld ist Ivan Benito und er nimmt sich schon als Bub vor, dereinst der nächste waschechte Aarauer im FCA-Tor zu werden.
2019 ist es soweit: Nach der denkwürdig verlorenen Barrage gegen Xamax steht der FC Aarau ohne Goalie da, Geld für eine Neuverpflichtung ist nicht da – also Ammeter: Der damals 18-Jährige hat zuvor noch kein Profispiel absolviert, aber ihm wird grosses Talent nachgesagt.
Im ersten Einsatz gegen Winterthur kann Ammeter brillieren, darauf geht es für ihn und den FC Aarau bergab: Die Mannschaft kassiert insgesamt 80 Gegentreffer und beendet die Saison auf dem historisch schlechten Rang 8, Trainer Patrick Rahmen wird entlassen. Ammeter leidet primär unter der Schwäche der Abwehrspieler, doch je länger, je mehr wirkt der Profi-Neuling auch überfordert, eine Pause würde ihm guttun, auch Rahmen sieht das ein – doch Ammeter muss im Tor bleiben, weil es keinen tauglichen Ersatzgoalie gibt.
Nach dem Absturz wird beim FCA umgekrempelt – auch im Tor, wo fortan Simon Enzler das Vertrauen geniesst. Ammeter muss nach dem brutalen Lehrjahr auf die Ersatzbank, immerhin wird er im Frühling 2021 für ein Trainingscamp der Schweizer U21-Nationalmannschaft aufgeboten.
So vergehen 378 Tage ohne Ernstkampf, ehe der FC Aarau für das erste Cupspiel dieser Saison ins Maggiatal reist. Gegner ist der FC Someo, eine Gruppe aus Feierabendkickern in der 4. Liga, um das Spielfeld ist zur Abschreckung der Wildschweine aus dem angrenzenden Wald ein elektrischer Zaun gespannt. Ammeter darf spielen, wobei: Das einzige Mal einen Ball fangen muss er nach einem gegnerischen Befreiungsschlag.
Und dann das: Handbruch im Training. Es heisst, Ammeter falle bis zum Jahresende aus. Als einige Wochen später die Berner Young Boys vermelden, dass wegen der Schulterverletzung von Stammtorhüter David von Ballmoos (out bis nächstes Jahr) eine temporäre Ergänzung für das Goalieteam gesucht werde, taucht Ammeter nicht einmal auf der Liste mit den absurdesten Vorschlägen auf.
Mitte November die Nachricht: YB verpflichtet bis Ende 2021 Nicholas Ammeter! Wie bitte?
Am meisten überrascht über den Anruf aus Bern ist wohl Ammeter selber, der nach unerwartet schnellem Heilungsverlauf erst seit vier Tagen wieder am Training teilnimmt. Er hat schon die Mitfahrgelegenheit an ein Auswärtsspiel des FC Aarau organisiert, ehe er sich am Vorabend abmeldet – mit den Worten: «Kein Witz jetzt: Ich trainiere ab morgen bei YB.»
Die Young Boys stehen zu diesem Zeitpunkt vor einem Champions-League-Spiel, so dass gar das Szenario möglich ist: Von der Reha direkt in die Königsklasse! Dazu kommt es nicht, Ammeter erhält von der Uefa keine Spielberechtigung, darf vergangene Woche aber immerhin nach Manchester mitreisen und die einmalige Atmosphäre im Stadion Old Trafford, Übername «Theater der Träume», aufsaugen.
Vielleicht «träumte» er dort auf der Tribüne von einem Einsatz gegen den FC Basel, im Spiel, auf das heute Abend die ganze Fussballschweiz schaut, auf ihn schaut – ein Märchen würde wahr.