Vom Auswanderer zum Pionier: Wie dieser Aargauer Jude mit seinen Bouillonwürfeln die USA eroberte
Sie gehörten zu den bekanntesten jüdischen Auswanderern aus dem Surbtal: die Handels- und Industriellenfamilie Guggenheim oder Hollywood-Regisseur William Wyler. Solomon R. Guggenheim, dessen Grossvater von Lengnau nach Philadelphia ausgewandert war, gründete 1939 das berühmte Guggenheim-Museum in New York. Und Wyler, dessen Vater aus Endingen stammte, gewann mit seinem Filmepos «Ben Hur» einen seiner drei Oscars.
Es gibt aber auch zahlreiche Juden und Jüdinnen aus dem Surbtal, deren Namen heute weniger bekannt sind, die aber auch Erfolgsgeschichten schrieben. Zu ihnen zählt etwa Lebensmittelpionier Silvain S. Wyler, den Historikerin Angela Bhend in der vor kurzem veröffentlichten 99. Ausgabe der Badener Neujahrsblätter ins Zentrum rückt. Der Endinger habe den Garten in die Küche gebracht und es mit Bouillonwürfeln, Instantsuppen und Trockengemüse in den USA zu einem millionenschweren Geschäft gemacht.
Die Liebe führte den Endinger nach Chicago
Lengnau und Endingen waren fast 90 Jahre lang die einzigen Dörfer in der Schweiz, in denen sich Juden dauerhaft niederlassen und eigene Gemeinden gründen durften. Als diese diskriminierenden Schranken 1866 wegfielen, seien die jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner zunehmend aus dem Surbtal nach Baden, Zürich oder ins Ausland abgewandert. «Überhaupt waren widrige Lebensbedingungen wie Armut und geringe Zukunftsaussichten Beweggründe, die im 19. Jahrhundert zur Abwanderung führten – nicht nur aus dem Surbtal.» Als Silvain S. Wyler in den 1920er-Jahren nach Chicago auswanderte, spielte aber auch die Liebe eine grosse Rolle.
Zur Welt gekommen war der spätere Lebensmittelpionier am 8. August 1894 in Oberendingen als jüngstes der drei Kinder von Samuel und Jeannette Wyler-Bloch. Er erlernte den Beruf des Kaufmanns und stieg später in das Textilgeschäft seines Schwagers Henry Bollag ein, der Leinen- und Baumwollstoffe verkaufte.
Wylers Leben nahm 1922 eine besondere Wendung, als er die Amerikanerin Arma Roma Shelman kennenlernte. Sie war damals zu Besuch bei ihrem Onkel in der Schweiz, der auch Wylers Schwager und Geschäftspartner war. Die Tochter eines Bäckers aus Chicago und ehemalige Schauspielerin verlobte sich noch im selben Jahr mit dem Endinger Kaufmann. Er folgte seiner Zukünftigen nach Chicago, 1926 heirateten die beiden.
Auf einer Reise durch Europa 1929 stellte das Ehepaar fest, dass auf diesem Kontinent jede Hausfrau Bouillonwürfel zum Kochen brauchte, etwa für Suppen oder zum Würzen von Saucen. Die Geschäftsidee war geboren. Sie legten dafür ihr gesamtes Erspartes zusammen, insgesamt 35’000 Franken, und gründeten 1931 die Wyler & Company. «In einem gemieteten Gewerbelokal in Michigan, mit gerade mal sieben Angestellten und dem Import von Bouillonwürfeln nahm diese erfolgreiche Firmengeschichte ihren Lauf», schreibt Angela Bhend.
Die Würfel wurden zuerst bei Metzgern auf der Theke angeboten. Die Nachfrage stieg – und damit auch die Importschwierigkeiten. Also stellten die Wylers ab 1940 die Bouillonwürfel selbst her und erweiterten nach ein paar Jahren ihr Sortiment mit Instant-Hühnersuppen und Gemüseflocken. «1945 kam die Wyler Limonade auf den Markt», so Bhend. Ende der 1950er-Jahre zog die Firma in die neu erbaute Fabrik an der Addison Street in Chicago ein. «Das Geschäftsvolumen wuchs ununterbrochen weiter, und bald wurden die wylerschen Produkte in den Regalen aller wichtigen Supermärkte angeboten.»
Multimillionäre reisten jedes Jahr in die Heimat
Trotz des grossen Erfolges blieb Silvain S. Wyler seiner Heimat treu verbunden: Jedes Jahr reiste er für einige Monate in die Schweiz und traf sich mit seinen früheren Schulkameraden aus Oberendingen. Mit dabei war jeweils auch Arma, die massgeblich am kometenhaften Aufstieg der Firma beteiligt gewesen sei, schreibt die Historikerin. Die 1,80 Meter grosse Frau habe mit einer beeindruckenden Präsenz ihr Umfeld dominiert und sei als kreativer Kopf der Firma für die Rezepte, das Verpackungsdesign und das Marketing zuständig gewesen.
1961 wurde das Unternehmen vom mächtigen Borden-Konzern aufgekauft. Wyler führte als Generaldirektor das Geschäft zusammen mit seiner Frau und dem bisherigen Personal weiter. Doch der 68-Jährige verstarb nur zwei Jahre später unerwartet früh, «nur wenige Stunden nach einer Operation», schreibt Angela Bhend. «Trotz dieses schmerzvollen Verlusts wollte Arma Wyler das Werk ihres Mannes fortführen.» Da es zwischen ihr und dem Vizepräsidenten der Firma aber zum Zerwürfnis kam, sei sie schliesslich aus dem Unternehmen ausgetreten.
Die Ehe der Multimillionäre blieb kinderlos. «Deshalb schlossen die beiden zu Lebzeiten einen Pakt», schreibt die Historikerin. «Eine Bestimmung in ihrem Testament sah vor, dass der jeweils verbleibende Überlebende ein Kinderkrankenhaus in Chicago errichten soll.» Ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes spendete Arma Wyler deshalb zwei Millionen Dollar (damals 8,6 Millionen Schweizer Franken): 1967 wurde das Wyler Children’s Hospital eröffnet, das zu dieser Zeit modernste Kinderspital Amerikas. Im selben Jahr spendete sie weitere zwei Millionen Dollar für die Renovation der Chicagoer Orchestra Hall.
1989 starb die Philanthropin, fast 30 Jahre nach ihrem Mann. Die Produkte des Ehepaars sind geblieben: Noch heute finden sich der «Wyler’s chicken bouillon cube» oder die «Wyler’s soup» in US-amerikanischen Supermärkten.