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«Tagsüber bin ich ein Vulkan»: Für Sol Gabetta ist das Solsberg-Festival eine Oase im Terminkalender

Zwei Festivals und 17 Konzerte – das kulturelle Leben ist zurück. Auch auf der Agenda von Sol Gabetta. Wie sie ihr Pensum bewältigt, erzählt die Cellistin im Interview.

Die Cellistin Sol Gabetta zählt zur Weltklasse: In Olsberg, einer idyllischen, nicht weit von Basel entfernten Gemeinde im Kanton Aargau, hat sie 2006 das längst zu den ersten Adressen zählende Solsberg Festival gegründet. Nach zwei schwierigen Pandemiejahren findet das Kammermusikfest vom 23. Juni bis 3. Juli wieder im gewohnten Rahmen statt. Sol Gabetta hat aber noch ein weiteres Festival in Lugano gegründet: Presenza. Wir haben die Cellistin gefragt, woher sie die Energie für immer neue Projekte und Herausforderungen nimmt.

Die Pandemie legte sich wie ein Schatten über das Solsberg Festival: 2020 fiel es aus, 2021 fand es eingeschränkt statt, dafür wurde jedes Programm live ­gestreamt. 2022 sieht die Situation völlig anders aus.

Sol Gabetta: Glücklicherweise! Beim 17. Festival hat sich lediglich das Format etwas geändert. Das heisst: Wir legen zwischen den einzelnen Konzerttagen keine Pause mehr ein; es ist also ein kompaktes Festival. Gespielt wird wie immer in unserem Mutterhaus, der Klosterkirche Olsberg, zudem in der Stadtkirche St.Martin Rheinfelden und – ennet der Grenze – in der Pfarrkirche St.Cyriak im deutschen Sulzburg.

Da fehlt eigentlich nur noch Frankreich.

Wir möchten Frankreich sehr gerne einbinden, denn Solsberg soll ein Festival sein, das sich in historisch bedeutenden Räumen im Dreiländereck abspielt. Wir haben in Frankreich, in der Nähe zur Schweiz, Ausschau nach Räumlichkeiten gehalten, aber den idealen Ort noch nicht gefunden.

Dank Livestream konnten 2021 viele Menschen dabei sein beim Solsberg Festival.

Sicher. Aber letztlich handelt es sich um eine Reproduktion, die niemals die Begegnung von Mensch zu Mensch ersetzen kann. Wir alle brauchen indessen Menschen, um uns mit ihnen auszutauschen und zu diskutieren – auch bei einem Konzertbesuch. Weshalb reise ich denn mit meiner Musik in so viele Länder und bringe meine Kunst mit? Um menschliche Verbindungen zu ermöglichen.

Gerade das war vor allem 2020 schwierig; 2021 wurden Konzerte dann, obschon mit Einschränkungen, wieder erlaubt. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Ganz unterschiedliche an ganz unterschiedlichen Orten, wo ich ein ganz unterschiedliches Publikum erlebt habe. Um ein Beispiel herauszugreifen: München hat ein Publikum, das sehr geprägt ist von Kultur; dieses kam also wieder in die Konzerte. Andernorts sah das völlig anders aus. Da war das Publikum zurückhaltend – ob die Angst vor einem Konzertbesuch mitgespielt hat? Generell haben wir alle festgestellt, dass die Besucherinnen und Besucher sich erst sehr kurzfristig für ein Konzert entscheiden.

Was für die Veranstalter bedeutet…

…dass sie keine Sicherheit mehr kennen. Das gilt aber auch für Musikerinnen und Musiker. Die Welt ist fragiler geworden; mit der Ruhe, Bekömmlichkeit und Bequemlichkeit ist es vorbei.

Und diese Unsicherheit macht vielen Menschen zu schaffen.

Dessen bin ich mir sehr wohl bewusst. Ich bin einfach von meiner argentinischen Herkunft her etwas anderes gewohnt. In Argentinien muss man jeden Tag überstehen. Als ich in die Schweiz kam, um zu studieren, war es eine gute Erfahrung, dass man nicht täglich kämpfen muss. Diese Sicherheit in der Schweiz ist natürlich schön, aber die Kunst braucht Gegensätze. Wenn ich zu bequem werde, bin ich nicht glücklich. Und ich möchte jeden Tag etwas Besonderes geben.

Auch beim Kammermusikfestival Solsberg?

Oh ja. Das Solsberg Festival ist die Oase in meinem Kalender. Solsberg hat eine ganz eigene Aura. Das Musizieren mit Freundinnen und Freunden macht so viel Freude. In Olsberg können sie Programme gestalten und Werke spielen, die sie im gängigen Konzertbetrieb kaum aufführen könnten.

Weil Sie das Wort Oase erwähnen: Wie viele Konzerte haben Sie im Mai gespielt?

(lacht)

17! Das ist extrem viel.

Dann müsste Ihr Tag 36 oder mehr Stunden haben. Wie sonst hätten Sie mit Ihrem Lebensgefährten Balthazar Soulier noch ein weiteres Festival, diesmal in Lugano, auf die Beine stellen können?

Ja, Presenza ist eine wirklich spannende Sache.

Inwiefern?

Weil dieses Festival im LAC, Lugano Arte e Cultura, eine Carte Blanche ist: Wir wollen dort – gemeinsam mit dem Orchestra della Svizzera Italiana und dessen Chefdirigenten Markus Poschner – Alternativen zum formalen Rahmen des klassischen Sinfoniekonzerts mit Solisten erproben.

Wie muss ich mir das vorstellen: Stellen Sie das gängige Konzertformat mit Ouvertüre, Solokonzert und Sinfonie in Frage? Und damit die klassische Positionierung von Orchester, Solistin und Publikum?

Nein. Es geht nicht um radikale Veränderungen, sondern vor allem um Details, die wir ausprobieren wollen, um das Publikum zu sensibilisieren. Wir fragen uns zum Beispiel: Wie kann man mit dem Licht arbeiten, um eine höhere Konzentration des Hörens zu erreichen.

Was ist mit Ihnen: Sitzen Sie stets vor dem Orchester?

Nein. Ich bin zwar ständig da und spiele in allen Stücken, die wir ausgewählt haben, mit. Aber ich spiele manchmal eben nur eine Solostelle für das Cello. Wo befinde ich mich in diesem Moment? Etwa hinten im Orchester? Ich will es einmal so sagen: Dies alles ist eine offene Freiheit.

Können selbst kleinere Anpassungen des klassischen «Rituals» und des Konzertprogramms eine grosse Wirkung haben?

Unbedingt. Jeder Blick, jede Bewegung und jede Geste sind bei einem Konzert wichtig.

Also handelt es sich nicht nur um ein akustisches Ereignis?

Ja. Im Konzert kommen visuelle, soziale, theatralische und historische Komponenten zusammen. Sie alle interagieren miteinander. Wir wollen diese Interaktionen verstärken und das Publikum daran teilhaben lassen.

Wie?

Indem wir ihm helfen, zu erkennen, dass es selbst ein wichtiger Teil des Ganzen ist und dass es sogar auf die Interpretation der Künstlerinnen und Künstler Einfluss haben kann.

Seit 2010 moderieren sie – alternierend mit dem Perkussionisten Martin Grubinger – die Sendung «KlickKlack» des Bayerischen Fernsehens. Sie sprechen mit Künstlerinnen und Künstlern über Musik. Was fasziniert Sie an diesem TV-Format?

Mich hatte damals der Produzent angefragt, ob ich mitwirken wollte. Warum ich? Ich habe es dann gewagt, musste aber zuerst lernen, wie das Ganze abläuft. Diese Sendung ist eine Herausforderung, aber die Ideen sprudeln nur so aus mir heraus. Ich frage mich dabei immer: Was interessiert mich? Dann suche ich mir jene Künstlerinnen und Künstler, mit denen ich mich über Musik austauschen kann. Und diese wiederum geniessen es, mit jemandem über Musik zu sprechen, der damit etwas zu tun hat.

Sie moderieren eine TV-Sendung, Sie haben Festivals gegründet und dies vor allem: Sie spielen sehr viele Konzerte in aller Welt. Wie können Sie all diese Aufgaben bewältigen?

Ich habe tatsächlich eine starke innere Ruhe. Und diese Ruhe erlaubt mir auf der Bühne das Gefühl zu empfinden, am richtigen Ort zu sein, um meine kreative Freiheit zu erleben und auszudrücken.

Und wenn Sie gerade kein Konzert spielen?

Tagsüber bin ich ein Vulkan.