Coming-Out und Kritik am Krieg: Russlands Tennis-Ass Kassatkina bricht mehrere Tabus
Darja Kassatkina ist Zwölfte der WTA-Weltrangliste und damit die gegenwärtig stärkste russische Tennisspielerin. Für einmal hat die diesjährige French-Open-Halbfinalistin indes nicht auf dem Court, sondern abseits sportlicher Gefilde auf sich aufmerksam gemacht. Die 25-Jährige outete sich am Montag in einem Video-Interview als homosexuell und machte gleichentags ihre Beziehung zur russischen Eiskunstläuferin Natalja Sabijako publik.
«Es ist schwierig und es bringt nichts, lange im Stillen zu bleiben», befand Kassatkina in dem auf dem Youtube-Kanal des Bloggers Witia Kravchenko veröffentlichen Interview. Es gebe viele Tabus in Russland – und das Ausleben sexueller Orientierungen jenseits der heterosexuellen Norm darf da als prominentes Beispiel angeführt werden. Noch bis 1999 galt Homosexualität in Russland als psychische Krankheit. Das 2013 verabschiedete Gesetz gegen «homosexuelle Propaganda», das etwa das Abhalten von Pride-Kundgebungen verbietet, hat die verbreitete gesellschaftliche Ächtung ohnehin am Rand lebender Gruppen weiter akzentuiert.
Sie könne in ihrer Heimat nie auf der Strasse die Hand ihrer Freundin halten. «Wenn man die Wähl hätte, würde niemand homosexuell sein wollen. Wieso sollte man sein Leben schwieriger machen, vor allem in Russland?», sagte Kassatkina in dem in Barcelona aufgezeichneten Gespräch.
Als umso beachtlicher darf ihr Gang an die Öffentlichkeit bezeichnet werden. Sie ist nach Nadeschda Karpowa bereits die zweite russische Spitzensportlerin, die sich in jüngster Vergangenheit als lesbisch geoutet hat. Die 27-jährige Fussballerin hatte ihre Homosexualität Anfang Juni öffentlich gemacht. Sie habe anderen damit geholfen, lobte Kassatkina. Es sei wichtig, dass Personen mit grosser Reichweite über das Thema sprechen.
«Kompletter Albtraum»: Kasatkina ruft zum Kriegsende auf
Auch zur russischen Invasion in die Ukraine nahm das Tennis-Ass, das sich durch ihr mutiges Coming-Out in ihrem Heimatland bereits auf heikles Terrain begeben hat, kein Blatt vor den Mund. Sie wolle nichts lieber, als dass der Krieg aufhöre, liess sie in dem im Rahmen eines Vlogs geführten Gespräch verlauten. Der Konflikt sei ein «kompletter Albtraum». In Russland ist der völkerrechtswidrige Angriffskrieg offiziell lediglich unter dem zynischen Euphemismus «militärische Spezialoperation» bekannt.
Auf ihre Angst angesprochen, möglicherweise nie mehr in ihre Heimat zurückkehren zu können, brach die in der Stadt Toljatti geborene Profisportlerin in Tränen aus. Die Sorge ist realistisch: Eine baldige Wiederkehr nach Russland ist Kassatkina wohl nicht zu raten. Die sich zusehends verengenden Grenzen des Sagbaren in Russland hat sie in jedem Fall mehrfach überschritten.