
Wie die Hierarchien im Männertennis erodieren – und weshalb das Jannik Sinner und Novak Djokovic freut
Während knapp zwei Jahrzehnten waren die Hierarchien im Männertennis in Stein gemeisselt. Zwischen Februar 2004 und Februar 2022 führten nur vier Männer die Weltrangliste an, ehe Daniil Medwedew dieses Quartett sprengte: Novak Djokovic, Roger Federer, Rafael Nadal und Andy Murray.
Seither führten mit ihm, Djokovic, Carlos Alcaraz und Jannik Sinner vier Spieler das Ranking an, keiner während eines ganzen Jahres, aber gleich mehrfach nur für wenige Wochen. Obwohl er mit den Australian Open in diesem Jahr nur ein Turnier gespielt (und gewonnen hat), sitzt Sinner fest im Sattel. Der Italiener sitzt derzeit eine dreimonatige Dopingsperre ab und hat gute Aussichten, auch nach dem zweiten Masters-1000-Turnier des Jahres in Miami selbst in der Jahreswertung an der Spitze zu bleiben.
Denn hinter ihm hat sich in den letzten Monaten keine neue Hierarchie verfestigt. Alexander Zverev hatte gute Aussichten, Sinner während dessen Abwesenheit an der Spitze der Weltrangliste abzulösen. Doch in Buenos Aires wie auch in Rio de Janeiro verlor der Deutsche er im Viertelfinal, in Acapulco in der zweiten Runde und in Indian Wells sogar in der ersten.

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Absturz von Medwedew und Tsitsipas
Wie volatil die Machtverhältnisse im Männertennis geworden sind, zeigt auch dieses Beispiel: Mit Sieger Jack Draper, Finalist Holger Rune sowie Carlos Alcaraz und Daniil Medwedew verloren die Halbfinalisten von Indian Wells beim Masters-1000-Turnier in Miami gleich ihr erstes Spiel.
Dem Russen Daniil Medwedew, US-Open-Sieger von 2018 und 16 Wochen die Nummer 1 der Welt, droht inzwischen gar der Fall aus den Top Ten. Etwas, das Stefanos Tsitsipas, dreifacher Grand-Slam-Finalist, in diesem Jahr schon passiert ist. Bei beiden spielten Verletzungen keine Rolle.

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Djokovic wieder im Aufwind
Tennis ist ein Sport der Verlierer, bei dem selbst der Sieger die Hälfte der Ballwechsel nicht gewinnt. Novak Djokovic, der erfolgreichste Spieler der Geschichte, hat «nur» 54,5 Prozent der Punkte gewonnen. Aus Miami reist nur ein Mann als Gewinner ab; 143, die in Qualifikation und Hauptfeld angetreten waren, tun dies als Verlierer. Und das Woche für Woche.
Obwohl er selber derzeit nicht spielt, gehört Jannik Sinner zu den wenigen Siegern der letzten Wochen. Seine Position an der Spitze der Weltrangliste bleibt bis in den Sommer hinein unangetastet. Von seiner Dopingsperre zurückkehren dürfte der Italiener Anfang Mai beim Heimturnier in Rom.
Obwohl er seit anderthalb Jahren kein Turnier mehr gewonnen hat und bei den Australian Open (Aufgabe im Halbfinal), in Doha und Indian Wells drei Mal in Folge den Platz als Verlierer verlassen hat, ist auch Novak Djokovic einer der Sieger der letzten Wochen. In der Weltrangliste hat sich der bald 38-jährige Serbe trotz Erfolgsmisere sogar um zwei Positionen verbessert.

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Djokovic: Körper als grösster Gegner
Mit 428 Wochen sass keiner in der Geschichte des Männertennis so lange auf dem Thron wie er, letztmals im Mai des vergangenen Jahres. Daran, noch einmal an die Spitze zurückzukehren, zeigt Djokovic wenig Interesse.
Und doch spielt die Weltrangliste keine unwesentliche Rolle. Zwar kann der 24-fache Grand-Slam-Sieger noch immer jeden Gegner bezwingen, wie der Viertelfinalsieg gegen Carlos Alcaraz in Melbourne zeigte. Doch aufgrund seiner Rangierung hätte er nach dem Halbfinal gegen Zverev im Final auch noch Jannik Sinner aus dem Weg räumen müssen. Dabei gilt: Für Novak Djokovic ist längst der eigene Körper der grösste Gegner.
Was auf den 14 Jahre jüngeren Italiener Jannik Sinner nicht zutrifft. Aus seiner Sperre geht er als grosser Sieger hervor. Auch deshalb, weil die Hierarchie hinter ihm in seiner Abwesenheit regelrecht erodiert ist.