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Abstimmungsbüchlein täuscht: Das Tierleid nimmt nicht ab

In den Abstimmungsunterlagen zum Tierversuchsverbot mangelt es an Transparenz. In Versuchen werden noch immer beinahe so viele Tiere wie vor zwanzig Jahren eingesetzt. Die Belastungen nehmen sogar zu, am meisten in der Krebsforschung.

In den letzten 40 Jahren hat der Einsatz von Versuchstieren stark abgenommen – so steht es im Abstimmungsbüchlein, das allen Stimmberechtigten der Schweiz kürzlich in den Briefkasten geflattert ist. Die Aussage ist nicht falsch. Doch es ist nur die halbe Wahrheit.

Anfang der Achtziger wurden zwei Millionen Tiere für Versuche verwendet. Im Jahr 2020 waren es noch 560’000. In der Tat eine eindrückliche Abnahme. Doch sie ereignete sich im vergangenen Jahrhundert. In den letzten zwanzig Jahren gab es keine substanzielle Abnahme mehr. Im Jahr 2000 waren wir mit knapp 570’000 Tieren ziemlich genau auf demselben Niveau wie heute.


Die Bundeskanzlei, die für die Abstimmungsunterlagen zuständig ist, verweist gegenüber dieser Zeitung darauf, dass die Anzahl Versuchstiere seit 2015 kontinuierlich zurückgegangen ist. In den Erläuterungen könnten aber nur die Haupttendenzen wiedergegeben werden, mit einer Fussnote werde auf die ausführliche Statistik verwiesen.

Heute wird mit gleich vielen Tieren mehr geforscht

Wie erklärt sich der Knick in der Kurve der Versuchstiere? Jenny Sandström, Direktorin vom 3R Kompetenzzentrum Schweiz: «Der drastische Rückgang des Einsatzes von Tieren in den Achtzigern und Neunzigern fiel mit dramatischen Fortschritten in der Zellkulturtechnik zusammen.» Die Züchtung von Zellen in Laboren schritt so weit voran, dass viele Versuche, die zuvor an Tieren gemacht wurden, nun an Zellkulturen vorgenommen werden konnten. Ab dem Jahr 2000 sei dann das Forschungsvolumen in der Schweiz stark angestiegen. Heute wird also mehr geforscht als vor zwanzig Jahren, aber es werden nicht mehr Tiere verwendet. «Dies spricht dafür, dass Alternativen bereits an die Stelle von Tieren treten», sagt Jenny Sandström.

Doch wie sieht es mit dem Tierwohl aus? Bei gut 40 Prozent der Versuche handelte es sich 2020 um Schweregrad null. Das sind zum Beispiel Studien, in welchen Tiere beobachtet werden, ohne dass sie in Angst versetzt oder ihnen Schmerzen zugefügt wurden. Weitere knapp 30 Prozent zählten als Schweregrad eins mit kurzfristig leichten Schmerzen oder Schäden.

Schweres Leid für 20’000 Tiere

Am anderen Ende der Skala stehen zum Beispiel Versuche, bei denen einem Tier ein aggressiver Tumor eingepflanzt wurde. Das entspricht Schweregrad drei mit einer «schweren Belastung». Knapp 20’000 Tiere wurden im Jahr 2020 solchem Leid ausgesetzt. Die Zahl hatte nach der Jahrtausendwende abgenommen, ist nun aber wieder ungefähr auf das Niveau von damals angestiegen. Von mittleren Belastungen waren rund 146’000 Tiere betroffen, etwas weniger als im Vorjahr. Der langfristige Trend zeigt hier jedoch langsam, aber stetig nach oben, mit aktuell rund 40 Prozent mehr Tieren als vor zwanzig Jahren.


Der Anstieg bei den mittleren und schweren Belastungen hat wohl mit den Forschungszweigen zu tun, in denen die Schweiz besonders aktiv ist. «In einigen Bereichen werden tendenziell mehr Tiere in höheren Schweregraden eingesetzt», sagt Jenny Sandström. «Ein Beispiel sind die Neurowissenschaften, ein anderes die Krebsforschung. Wir gehen davon aus, dass die Forschung in diesen Bereichen in den letzten Jahren zugenommen hat, was die beobachteten Trends teilweise erklären könnte.» Im Jahr 2020 wurden rund zwei Drittel der Versuchstiere in der Schweiz für die Erforschung von Krankheiten beim Menschen verwendet, am meisten – über 100’000 Tiere – in der Krebsforschung.

Besonders schlimm wirken auf den Menschen Bilder von angeschnallten Affen. Deren Einsatz mit mittleren oder schweren Belastungen hat aber stark abgenommen. Anfang der Nullerjahre waren noch jedes Jahr mehr als sechzig Affen schweren Belastungen ausgesetzt, im Jahr 2020 war es kein einziger. Ähnlich sieht es bei den Hunden aus, von 2016 bis 2020 musste keiner für Versuche vom Schweregrad 3 hinhalten.

Tote Hunde in Deutschland wegen Schweizer Firma

Das muss aber noch nicht heissen, dass die Schweiz nicht an derartigen Tierversuchen beteiligt ist. 2019 hatte ein Mitarbeiter der Tierschutzorganisation Soko Tierschutz mit versteckter Kamera in einem deutschen Labor schockierende Aufnahmen gemacht: In einem Versuch verendeten Beagles in ihren Käfigen an Blutungen; sie wurden selbst dann nicht erlöst, als sie offensichtlich keinen Nutzen mehr für das Experiment brachten. Auftraggeberin des Versuchs war die Firma Inthera Bioscience in Wädenswil. Offenbar kommt es also vor, dass Tierversuche ins Ausland ausgelagert werden. Dem fehlbaren Labor in Deutschland aber wurden inzwischen Tierversuche gerichtlich verboten.

Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz muss jeder Tierversuch bewilligt werden. In der Schweiz wird das Gesuch bei der kantonalen Tierversuchskommission eingereicht. Vo­raussetzung für die Bewilligung ist, dass es keine Alternative gibt. Zudem muss der Nutzen für die Gesellschaft grösser sein als das Leiden der Tiere. Für diese Abwägung gibt es jedoch keine klaren Kriterien – das liegt im Ermessen der Kommission. In dieser sind auch Tierschutzorganisationen vertreten, sie sind jedoch in der Minderheit.