Evenepoel nimmt Pogacar und Vingegaard ins Visier: Deshalb scheiden sich am Rad-Wunderkind die Geister
Er war schon Weltmeister auf der Strasse und im Zeitfahren. Er gewann Eintagesrennen wie die Classica San Sebastian, Etappen beim Giro d’Italia und bei der Vuelta, deren Gesamtwertung er 2022 für sich entschied. Das ist eine mehr als bemerkenswerte Vita für einen 24-Jährigen, der erst mit 17 sein erstes Radrennen bestritt und zuvor eine Karriere als Fussballer anstrebte. Nun startet Remco Evenepoel erstmals bei der Tour de France.
Es sind Erfolge, die im radsportverrückten Belgien Sehnsüchte nach alten Zeiten und Hoffnungen wecken. «Kannibale» Eddy Merckx feierte den letzten seiner fünf Tour-de-France-Siege 1974, zwei Jahre später beendete Lucien Van Impe die Rundfahrt als letzter Belgier auf dem ersten Rang.
In Belgien ist das Rad-Wunderkind Remco Evenepoel dazu auserkoren, diese seit einem halben Jahrhundert andauernde Sieglosigkeit zu beenden.
Evenepoels Einbruch am Tourmalet
Doch obwohl er 2022 in Spanien das Gegenteil bewiesen hat, zweifeln viele, ob der 24-Jährige jemals in der Lage sein wird, bei der Tour de France die beiden zweifachen Sieger Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard herauszufordern. Schon Anfang Jahr ätzte Ex-Fahrer Claudio Chiappucci: «Remco wird nie ein grosser Fahrer von Etappenrennen sein.» Das Urteil des Italieniers gründet auf einem epochalen Einbruch Evenepoels bei der Vuelta im letzten Jahr. Da verlor der Belgier auf dem Weg zum Col du Tourmalet fast eine halbe Stunde auf den Tagessieger Vingegaard.
Seither sind die Meinungen gemacht: Evenepoel gilt als überragender Zeitfahrer, als begnadeter Allrounder, der auch in hügeligem Gelände zur Weltspitze gehört. Doch spätestens im Hochgebirge geht ihm die Luft aus.
Schwerer Sturz in der Lombardei-Rundfahrt
Doch wie so oft lohnt sich eine nuanciertere Betrachtung. Für Evenepoel ist das Debüt bei der Tour de France erst die fünfte Grand Tour. 2022 hatte er die Vuelta gewonnen, 2023 zog er einen schlechten Tag ein, gewann drei Etappen und beendete die Spanien-Rundfahrt auf dem zwölften Rang.
2021 startete Evenepoel beim Giro d’Italia erstmals bei einer Grand Tour, war bis zur 15. Etappe stets unter den ersten acht klassiert, ehe er in der 16. Etappe viel Zeit verlor und nach einem Sturz in der 17. Etappe aufgeben musste. Allerdings markierte die Italien-Rundfahrt Evenepoels allererstes Rennen nach einer achtmonatigen Pause. Im August 2021 war er bei der Lombardei-Rundfahrt in einer Abfahrt über eine Brückenmauer gestürzt und hatte dabei einen Beckenbruch und eine Lungenprellung erlitten.
Rückkehr mit Sieg im Zeitfahren
Pech hatte Remco Evenepoel auch zwei Jahre später. Zwar gewann der Belgier zwei Zeitfahren des Giro d’Italia, musste das Rennen wegen eines positiven Covid-19-Befundes jedoch vor der zehnten Etappe aufgeben.
Auch die Vorbereitung auf seine erste Tour de France verlief nicht nach Wunsch. Wie Vingegaard und der slowenische Mitfavorit Primoz Roglic stürzte Evenepoel Anfang April bei der Baskenland-Rundfahrt schwer und brach sich dabei das rechte Schlüsselbein und das rechte Schulterblatt.
Seit Anfang Mai bereitete sich Evenepoel mit seinem spanischen Edelhelfer Mikel Landa vom Team Soudal-Quickstep in der Höhenlage der Sierra Nevada in Spanien auf seine Rückkehr vor. Anfang Juni gewann Evenepoel beim Critérium du Dauphiné das Zeitfahren, konnte in den Bergen aber nicht mit den Besten mithalten und belegte den achten Schlussrang.
Mit Übergewicht ins Trainingslager
«Mit 85 Prozent Form sind die Ergebnisse hier für mich nicht so schlecht», resümierte Evenepoel, zumal er dort noch mit «Übergewicht» unterwegs gewesen sei. Zuletzt trainierte er im französischen Wintersportort Isola 2000, wo er ein paar Kilogramm abgenommen habe. «Das war dringend notwendig. Mit dem Gewicht, das ich zuvor hatte, wäre es unmöglich, bei der Tour de France mit den Besten mitzuhalten», sagte der Belgier.
Angesichts der erschwerten Vorbereitung dämpfte er die Erwartungen: «Natürlich möchte ich gerne eine gute Tour de France fahren und einige schöne Resultate holen. Aber man sollte nicht vergessen, dass es meine Premiere ist.» Deshalb sei es der Plan, «das Rennen zu entdecken, es Tag für Tag anzugehen und dann zu schauen, wohin es uns führen wird».
Teamchef: «Remco ist ein Killer»
Das sind ungewohnt zurückhaltende Worte für einen, der seine Ziele sonst mit besonders viel Verve ausformuliert. Eine Eigenschaft, die Evenepoel mit seinem charismatischen Teamchef Patrik Lefévère teilt. «Ich kenne Remcos Charakter. Er will gewinnen. Er ist ein Sieger, ein Killer. Er wird zunächst auf Etappensiege fahren. Aber es ist klar: Remco will mehr», sagte er diese Woche zur belgischen Tageszeitung «Het Nieuwsblad».
Während es bei Pogacar, Vingegaard und Roglic keine Geheimnisse gibt, wenn es um ihre Stärken (und ihre wenigen Schwächen) geht, ist Remco Evenepoel so etwas wie die grosse Unbekannte der Tour de France.
Noch ist er ein ungeschliffener Diamant. In Belgien hoffen sie, dass aus ihm bald ein funkelnder Juwel wird. Und er dereinst die Sieglosigkeit bei der Tour de France beendet. Am liebsten schon in drei Wochen.