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Überwachung durch den Partner nimmt bei jungen Paaren zu – das sind die Gründe

Sie musste ihm Screenshots von Chatverläufen oder Videos ihrer Umgebung schicken: Ein Gerichtsfall aus dem Bezirk Kulm zeigt, wie Kontrolle in jungen Partnerschaften vermehrt zum Problem wird. Die Leiterin der «Anlaufstelle gegen Häusliche Gewalt Aargau» ordnet ein.

Es war ein aussergewöhnlicher Fall, über den das Bezirksgericht Kulm kürzlich befinden musste.Konkret ging es um eine toxische Beziehung eines jungen Paares: Amara und Tarik, wie wir die beiden nennen. Die Beziehung zwischen der damals Fünfzehnjährigen und ihrem sieben Jahre älteren Freund war geprägt von starker Kontrolle. So forderte er Screenshots von Chatverläufen oder ein 360-Grad-Video von ihr, um zu sehen, wer sich in ihrer Nähe befindet. Tarik setzte einen Freund zur Kontrolle auf Amara an, drohte ihr mit der Veröffentlichung eines Sex-Videos. Und er vergewaltigte sie. Mehrfach.

Kürzlich wurde Tarik zu sechs Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Der Kosovare muss die Schweiz und den Schengenraum für zehn Jahre verlassen. Und er muss Amara Schadenersatz von über 17’000 Franken und eine Genugtuung von 20’000 Franken bezahlen.

So aussergewöhnlich die Geschichte von Tarik und Amara auch ist, untypisch ist ihre Dynamik in toxischen Beziehungen junger Paare keineswegs. Das sagt jedenfalls Claudia Wyss. Die Leiterin der Anlaufstelle gegen Häusliche Gewalt Aargau stellt insbesondere bei jungen Paaren vermehrt Schwierigkeiten mit übermässiger Kontrolle fest, die Grenzen überschreitet. «Überwachung des Partners oder der Partnerin ist ein grosses Problem», sagt Wyss. «Und sie nimmt zu.»

Überwachung durch Social Media oder die Eltern

Claudia Wyss ist die Leiterin der Anlaufstelle gegen Häusliche Gewalt Aargau.
Bild: PD

Sie sieht eine Ursache in Social Media. «Für viele Jugendliche ist es normal, seinen Standort auf Snapchat oder Tiktok offen zu teilen», sagt Wyss. Der Umgang mit der eigenen Privatsphäre habe sich so durch die neuen Medien verändert: Man zeigt sich, ist überall präsent und dauernd online. «Diese Möglichkeit hat es früher nicht gegeben. Und damit auch die Probleme nicht, die dadurch entstehen», sagt Wyss.

Eine andere Ursache erkennt sie im Elternhaus. Es sei mittlerweile weit verbreitet, erzählt Wyss, dass Eltern ihre Kinder mit Trackern im Schulrucksack oder der Kindergartentasche überwachen. Man will ständig wissen, wo sich die eigenen Kinder gerade befinden. Das verändert auch die Wahrnehmung. «Für viele Kinder ist eine permanente Überwachung Normalität. Sie kennen nichts anderes», sagt Wyss. Und weiter: «Viele Eltern sind sich der Auswirkungen wohl nicht bewusst.»

Die Konsequenz: Überwachung ist für viele Jugendliche oder junge Erwachsenen keine Ausnahme. Sondern der Normalfall. «So ist für sie schwierig, übertriebene oder übergriffige Kontrolle überhaupt als diese wahrzunehmen», sagt Wyss.

Der Anteil junger Frauen und Männer zwischen 18 und 25 Jahren, die bei der Anlaufstelle gegen Häusliche Gewalt gemeldet sind, liegt bei rund 18 Prozent. Stärker vertreten sind hingegen ältere Altersgruppen: Bei den 31- bis 40-Jährigen und den 41- bis 60-Jährigen sind es je rund 30 Prozent. Das heisst aber nicht, dass häusliche Gewalt bei jungen Paaren weniger oft vorkommt. Wyss vermutet eine hohe Dunkelziffer. «Das Thema ist bei jungen Erwachsenen vermutlich nochmals schambehafteter als bei älteren Betroffenen.»

Auch im Fall Bergdietikon spielte Überwachung eine grosse Rolle

Auch der Dokumentarfilm «Vom Partner überwacht» der SRF-Sendung NZZ Format schilderte kürzlich die Problematik zunehmender Kontrolle. Eine Aussage einer Forscherin der Fachhochschule Wien: «Dass Partner versuchen, ihre Partnerinnen zu kontrollieren, ist nicht neu. Aber die technische Entwicklung ermöglicht Übergriffe, die früher so nicht möglich waren.»

Eine neue Technologie dieser Art sind beispielsweise Spionage-Apps mit klingenden Namen wie mSpy, Cocospy oder EyeZy. Einmal heimlich auf dem Handy des Partners installiert, ermöglichen sie alle in etwa das Gleiche: Sie zeichnen Telefonate auf, orten das Handy, geben Einblick in Chats.

Auch in dem wohl bekanntesten Aargauer Gerichtsfall der jüngeren Vergangenen spielte Überwachung eine zentrale Rolle in der sich immer schneller drehenden Gewaltspirale: im Fall Bergdietikon. Im Herbst 2022 ertränkte ein damals 47-jähriger Mann seine Frau in der Badewanne. Bereits ein halbes Jahr zuvor hatte er eine aussereheliche Affäre vermutet. Wochenlang hatte er ihr Handy geortet oder Chat-Konversationen gespeichert, ehe er zur Tat schritt.

Wie jedes Jahr macht die Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» ab Ende November auf geschlechtsspezifische Gewalt aufmerksam. Stellte die Aktion im vergangenen Jahr psychische Gewalt ins Zentrum, so lautet das diesjährige Fokusthema «Wege aus der Gewalt». Die Organisationen hinter der Kampagne fordern etwa mehr Plätze und Geld für Frauenhäuser, die Anerkennung geschlechtsspezifischer Gewalt oder mehr Studien in diesem Bereich.

Im Aargau sind mehrere Veranstaltungen geplant. Am 28. November von 16.30 bis 19 Uhr zeigen etwa das Frauenhaus Aargau / Solothurn und die Anlaufstelle gegen Häusliche Gewalt Aargau in der Aeschbachhalle in Aarau das interaktive Theaterstück «Gwaltig Gärn». Am 2. Dezember findet im Bullingerhaus eine Lesung mit anschliessendem Podiumsgespräch mit der bekannten Autorin und Expertin für sexualisierte Gewalt Agota Lavoyer statt. Sie liest aus ihrem sehr beachteten neuen Buch «Jede_ Frau».(daw)