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Selbst die Schalen werden zum Gedicht: Wieso so viele Spitzenköche plötzlich auf Kartoffeln setzen

Lange galt die Kartoffel als langweilige Beilage. Nun erobert sie die Spitzenküche ­– immer öfter auch als Hauptdarstellerin auf dem Teller.

«Man muss sich schon etwas Zeit nehmen für die Zubereitung, aber es lohnt sich. Für mich ist das der perfekte Soulfood», sagt Michael Dober vom Restaurant Rosa Pulver in Winterthur. Wenn der Küchenchef Pont-Neuf-Kartoffeln zubereitet, kocht er zuerst Thymian, Rosmarin, Knoblauch und Lorbeer im Salzwasser auf und gibt dann die in Rechtecke geschnittenen Kartoffeln dazu. Sobald weich gekocht, lässt er sie auf einem Gitter ausdampfen. Über Nacht kommen sie in den Kühlschrank. Am nächsten Tag frittiert der Flawiler die Kartoffeln hellbraun. Erst wenn sie danach noch zweimal frittiert werden, seien sie vorzüglich (siehe Rezept), verrät der mit 14 «Gault Millau»-Punkten ausgezeichnete Koch.


Dober hält fest: Kartoffeln seien so stark mit Emotionen verbunden, jeder hätte einen Zugang zu ihnen und oft auch Kindheitserinnerungen. Stimmt. Und doch: Meist kommen Kartoffeln in Form von Rösti, Stock oder Gratin auf den Teller. Dass die unscheinbare Knolle aber noch für ganz andere Gerichte verwendbar ist, zeigt nicht nur Manuela Rüther in ihrem Kochbuch «Kartoffelküche». Junge Spitzenköche wie eben Dober reizen den Härdöpfel voll aus und bringen ihn in vielfältiger Art und Weise auf den Teller. Nicht als beliebige Sättigungsbeilage. Nein, sie bekommt immer öfter die Hauptrolle. Mit gutem Grund, findet Dober:

«Sie ist so ungemein vielseitig und kann in den verschiedensten Konsistenzen zubereitet werden.»

Das schätzt auch Timo Fritsche vom Restaurant Oz, dem vegetarischen Restaurant von Andreas Caminada in Fürstenau. Er hat aktuell ein Dreierlei von der Kartoffel auf dem Menü stehen. Dazu gart er Blaue-St.-Galler-Kartoffeln im Wasserbad, lässt dann das Salzwasser so weit einkochen, dass eine Salzkruste entsteht, gibt die Kartoffeln wieder dazu und wendet sie darin. Dann konfiert er Heiderot-Kartoffeln, gibt Thymian, Knoblauch und Gewürz-öl dazu und ummantelt sie mit einer Saté-Sauce mit Sesam. Die dritte Komponente sind geräucherte Granola-Kartoffeln, die von Zwiebeln begleitet auf dem Tischgrill geröstet werden. «So bekommt man gleichzeitig eine salzige, eine süssliche und eine rauchige Komponente auf einem Teller», so Fritsche.

Der Kreativprozess ist bei der Kartoffel nie zu Ende

Ausgereizt sei die Kartoffel noch lange nicht, meint Fritsche, der mit einem Michelin-Stern und 16 «Gault Millau»-Punkten ausgezeichnet ist. Deshalb glaubt er, dass sie «stark» zurückkomme. Auch wenn man sie verstanden und schon alles gemacht habe, sei der Kreativprozess nie zu Ende. «Das ist auch das Spannende an der Kartoffel. Auf den richtigen Punkt gegart erzeugt sie ein äusserst angenehmes Kaugefühl.»

Die ursprünglich aus Südamerika stammende Knolle ist keineswegs ein Dickmacher, wie oft behauptet wird. Weder Gemüse noch Obst, sondern eine sogenannte landwirtschaftliche Kultur, enthält sie praktisch kein Fett, dafür aber eine Menge Stärke, Ballaststoffe, Eiweiss, Vitamine – vor allem B- und C-Vitamine – und Mineralstoffe. Insbesondere das «Gute-Laune-Vitamin», das Vitamin B1, spielt eine wichtige Rolle fürs Nervensystem, den Energiestoffwechsel und die Herzgesundheit. Eigentlich erstaunlich, dass in der Schweiz pro Jahr nur rund 45 Kilogramm pro Kopf konsumiert werden (Spitzenreiter ist Lettland mit über 100 Kilo pro Kopf).

Auf die Sorte kommt es an – etwa beim Püree

Der Zürcher Foodscout Richard Kägi bezeichnet seine Beziehung zur Kartoffel als sehr intensiv. Deshalb ist bei ihm die Kartoffel immer der Hauptdarsteller – egal ob ganz, geraffelt, gestampft, grilliert, gebraten oder frittiert. «Weil sie es verdienen, als eigenständige Gerichte auf den Teller zu kommen.» Kartoffeln kosten fast nichts, seien immer erhältlich, ungekühlt haltbar, machen satt und seien gesund, schwärmt Kägi.

Die Qualität sei sehr wichtig. Auch wenn sich die Sortenvielfalt über die letzten Jahre ausgedünnt habe, so gebe es doch engagierte Menschen, die Spezialitäten anbauen, auf die er jedes Jahr ungeduldig warte. Wie etwa die Bergkartoffeln aus dem Albulatal. Aber auch die Noirmoutier aus der Bretagne schätzt er oder die La Ratte mit ihrem tiefgelben Fleisch, die schon der französische Spitzenkoch Joël Robuchon als die einzig richtige Sorte für sein legendäres Püree verwendete. Die richtige Knolle und das Können des Kochs also verwandeln das Aschenbrödel-Grundnahrungsmittel in eine Prinzessin.


Timo Fritsche, in Norddeutschland aufgewachsen, ist mit dem Stärkeprodukt kulturell tief verwurzelt. «In der Schweiz sind die Böden schwieriger für Kartoffeln.» Deshalb verwendete er bisher meist die Bergkartoffeln von Biobauer Marcel Heinrich aus dem Albulatal. Doch weil das «Oz» möglichst alle Zutaten aus dem eigenen Garten beziehen will, werden künftig auch Kartoffeln angebaut. Ein erster Versuch mit Blauen St. Gallern im letzten Jahr war erfolgreich. «Nun werden wir den Eigenanbau weiter ausbauen.»

Zurück zu den Pont-Neuf-Kartoffeln von Michael Dober. Um keinen Foodwaste zu produzieren, verwertet er auch die Abschnitte und die Schale – ganz nach dem Leaf-to-Root-Prinzip. Erstere fermentiert er, sodass sie einen leicht käsigen Geschmack bekommen, und verwendet sie zum Aromatisieren von Espumas, Pürees, Mayonnaisen oder Saucen. Von den Schalen bereitet der Küchenchef vom «Rosa Pulver» einen Fond her oder röstet sie im Ofen. «Es ist verblüffend, wie viel Geschmack die Schalen hervorbringen.» Ein Hoch auf die Vielfalt der Kartoffel!