Das Fernsehen ist tot, es lebe das Fernsehen!
«Das Fernsehen ist tot», sagt Kevin Spacey beschwörend in «House of Cards». Spacey spielte in der umjubelten Netflix-Serie einst einen US-Präsidenten. Inzwischen ist er in der Realität wegen Fehlverhaltens in Ungnade gefallen. Mit seinem Befund, wonach Fernsehen für die Politik keine Rolle mehr spiele, war er nicht allein. Der damalige Konzernchef des Streaming-Dienstes Netflix, Reed Hastings, prophezeite 2014, klassisches Fernsehen werde es «noch etwa bis ins Jahr 2030» geben. Findet also in vier Jahren zum allerletzten Mal ein US-Präsidentschaftsduell statt?
Dafür, dass Fernsehen ein Auslaufmodell sein soll, erweist es sich gerade als ziemlich lebendig – und relevant. Der missratene Auftritt von Präsident Joe Biden in der Debatte mit Donald Trump vom 27. Juni beendete dessen Kandidatur. Und für das erste Duell zwischen Trump und Kamala Harris von Dienstagabend erwartet der Sender ABC traumhafte Einschaltquoten.
Die zwei Kandidaten bereiten sich intensiv vor. Auch Trump, der von sich vor vier Jahren sagte, er habe das nicht nötig. Harris hat sich, wie die «New York Times» berichtet, für fünf Tage in ein Hotel zurückgezogen, um zu üben. Und zwar in einem nachgebildeten TV-Studio und mit einem Berater, der als Trump verkleidet ist und sich auch so verhält.
Ein Aussetzer kann die Wahl entscheiden
Beide wissen: Ihre erste Begegnung kann darüber entscheiden, wer ins Weisse Haus einzieht. Ein grober Aussetzer, ein unpassender Gesichtsausdruck – das kann verheerend sein. Diese Wirkung hat nur das Live-Fernsehen. Da gibt es keinen Schnitt, kein Manuskript, keinen Teleprompter.
Das Harris-Team wünschte, dass das Mikrofon von Trump offen bleibt, während sie spricht: Man solle sein unflätiges Dreinreden nur hören. Harris hoffte, Trump zu «selbstzerstörerischen» Aussagen zu provozieren, berichteten US-Medien mit Verweis auf ihr Umfeld. Doch nun wird das Mikrofon wie beim Duell gegen Biden stumm gestellt, zur Erleichterung der Trump-Berater, die um seine fehlende Selbstkontrolle wissen.
Die Wucht des Bewegtbildes kam 1960 erstmals zum Ausdruck, beim Kampf John F. Kennedy gegen Richard Nixon. Wer am Radio zuhörte, sah gemäss Umfragen den Republikaner Nixon als Sieger der Debatte. Wer dasselbe Duell am Fernsehen verfolgte, empfand den Demokraten Kennedy als überzeugender. Sein Erscheinungsbild, seine Ausstrahlung und sein direktes Sprechen in die Kamera machten den Unterschied aus. Nixon entschied sich, auf Make-up zu verzichten; seine Stirn glänzte, und er wirkte dadurch nervös.
«Fernsehpräsident» im Museum
Jeder ehemalige US-Präsident bekommt ein Museum, dasjenige von Kennedy steht in Boston. Dass er der erste «Fernsehpräsident» war, nimmt in der Ausstellung viel Raum ein. Kennedy liess als Präsident auch Pressekonferenzen am TV übertragen, was zu seiner Popularität beitrug.
Nach Kennedy verschwanden die Wahlduelle vom Fernsehen, bis ins Jahr 1976. Stets hatte einer der beiden Kandidaten einen Grund, zu kneifen, so wie auch Trump gegen Harris beinahe verzichtet hätte. Erst das Argument, er könnte dadurch als Schwächling erscheinen, hat ihn gemäss Medienberichten zur definitiven Zusage bewogen.
Kevin Spacey und Reed Hastings meinten mit ihren Untergangsprophezeiungen das lineare Fernsehen, welches von Streaming und Social Media abgelöst werde. Dass es diese Verschiebung gibt, ist eine banale Erkenntnis. Kommune Pressekonferenzen von US-Präsidenten interessieren heute am Fernsehen kaum noch. Doch am Beispiel der Präsidentschaftsdebatten lässt sich erkennen, dass sich TV und neue Medien nicht bloss kannibalisieren, sondern auch ergänzen können.
Es regieren die Videoschnipsel
Videoschnipsel aus der 90-minütigen Sendung werden millionenfach auf Instagram & Co. geteilt, und in der Summe haben sie eine viel grössere Reichweite als die ABC-Übertragung. Auf den sozialen Plattformen sind in den vergangenen Jahren Videos wichtiger geworden, Text und Bild wurden zurückgestuft. Facebook und X haben von Tiktok gelernt.
Barack Obama, im Weissen Haus von 2008 bis 2016, galt als erster Facebook-Präsident. Damals war Zuckerbergs Plattform noch text- und bildlastiger. Darum hatten die Fernsehdebatten noch nicht diesen unmittelbaren Multiplikatoreffekt, wie sie ihn nun haben, im Zeitalter der Videoschnipsel. Diese haben dem alten Fernsehen zu neuer Bedeutung verholfen.