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Seit Jahrzehnten nimmt die Anzahl krebserkrankter Kinder zu: Die Medizin steht vor einem Rätsel

Immer mehr Menschen überleben Krebs, gleichzeitig erkranken Kinder häufiger – was ist da los?

Zuerst die erfreuliche Nachricht: In der Schweiz überleben immer mehr Menschen eine Krebserkrankung. Tumore sind, wohl vor allem dank dem Fortschritt in der Behandlung, in den vergangenen dreissig Jahren weniger tödlich geworden.

Das gilt gemäss neuen Zahlen des Bundesamts für Statistik (BFS) sowohl für Erwachsene wie für Kinder. Und auch über verschiedene Krebsarten hinweg: Brust-, Dickdarm- oder Prostatakrebs forderten zwischen 1992 und 2021 kontinuierlich weniger Todesopfer. Ebenfalls erfreulich: Neuerkrankungen von Dickdarmkrebs nehmen bei beiden Geschlechtern ab.

Eine Zunahme bei den Erwachsenen lässt sich bei bösartigem Hautkrebs erkennen. Betrachtet man alle Krebsarten, lässt sich hingegen festhalten, dass die Zahlen bei neuerkrankten Erwachsenen stabil bleiben. Auf 100’000 Männer erkranken alle fünf Jahre zwischen 440 und 460 Männer neu. Bei den Frauen sind es zwischen 320 und 335.

Kinderkrebsfälle steigen, obwohl sie gut dokumentiert sind

Auffallend ist der negative Trend bei den Kindern. Die Zahlen des BFS zeigen, dass seit 1992 zwar immer weniger Kinder an Krebs sterben, aber immer mehr von ihnen an Krebs erkranken. In der letzten erfassten Fünfjahresperiode von 2017 bis 2021 erkrankten etwa 19 pro 100’000 Kinder. In den 90er-Jahren waren es noch 15. Woran liegt das?

Nicolas Waespe ist Kinderonkologe und Oberarzt an der Kinderklinik des Inselspitals und forscht an den Universtitäten Bern und Genf. Er bestätigt: In den vergangenen rund vierzig Jahren beobachten Fachleute in entwickelten Ländern einen Trend zu mehr Krebserkrankungen bei Kindern. Das zeigen auch gross angelegte, populationsübergreifende Studien.

Ein Teil dieser Entwicklung lasse sich wohl mit der besseren Diagnostik und Statistik erklären, sagt Waespe. Kinderkrebsfälle und Krebs allgemein werden heute besser erkannt und erfasst als früher. Wobei Kinderkrebs in der Schweiz schon seit den 70er-Jahren im nationalen Kinderkrebsregister gut dokumentiert wird. Auch die internationale Zusammenarbeit in der Kinderonkologie funktioniert gemäss Waespe. Dank der kontinuierlichen Forschung können heute über 85 Prozent der krebserkrankten Kinder langfristig geheilt werden.

Trotzdem: Ein Teil des Anstiegs von Kinderkrebs lässt sich nicht erklären. Er stellt Medizinerinnen und Mediziner vor ein Rätsel.

Ursachen sind schwer erfassbar

Es gibt zwei grosse Unterschiede zwischen Krebs bei Erwachsenen und jenem bei Kindern, sagt Waespe. Erstens erkranken Kinder an anderen Krebsarten als Erwachsene. Am häufigsten kommen bei ihnen Leukämien und Gehirntumore vor. Bei Erwachsenen befällt der Krebs eher die Lunge, den Darm, die Haut sowie die geschlechtsspezifischen Organe Prostata und Brust.

Zweitens hat bei den Kindern die Umwelt einen geringen Einfluss. Bei Erwachsenen entsteht Krebs in der Regel wegen des Alters und dem Einfluss von Schadstoffen. Die Zellalterung und das schwächere Immunsystem sowie Zigaretten, Alkohol und Sonnenlicht begünstigen Krebs. Alles Dinge, die bei Kindern nicht ins Gewicht fallen.

Aber was ist es dann? Der Anstieg von Kinderkrebs sei eine langsame Entwicklung über mehrere Jahrzehnte, sagt Waespe. Darum gebe es wohl nicht den einen Faktor, der den entscheidenden Unterschied macht. Es müssen wohl mehrere sein. Welche, sei aktuell unklar, werde aber in grossen Studien untersucht.

Weil nur wenige Kinder pro Jahr erkranken, sei es schwer, äussere Einflüsse zu erforschen. Es brauche weitere Forschung mit grossen Datensätzen, die der internationalen Zusammenarbeit bedürfen.