Über 4200 Neuansteckungen in einer Woche im Aargau – jeder zweite Intensiv-Patient hat Covid
Die Coronasituation im Aargau bleibt angespannt. Letzte Woche sind gleich an vier aufeinanderfolgenden Tagen weit über 600 Neuansteckungen registriert worden. Für Freitag meldete der Kanton mit 699 neuen Fällen erneut einen neuen Negativrekord.
Insgesamt sind letzte Woche (Montag bis Sonntag) 4276 Personen positiv auf das Coronavirus getestet worden. Das entspricht einer Zunahme von 33 Prozent im Vergleich zur Vorwoche, als 3219 Neuansteckungen registriert wurden. Nach wie vor steigen die Fallzahlen exponentiell. Der R-Wert liegt im Aargau bei 1,21. Das heisst, 100 Infizierte stecken im Schnitt 121 weitere Personen an.
Diese Entwicklung verheisst vor allem für die Spitäler nichts Gutes. Erfahrungsgemäss dauert es ungefähr zwei Wochen bis sich höhere Fallzahlen auch bei den Hospitalisierungen niederschlagen. Der Peak ist also noch nicht erreicht. Die Intensivstationen werden sich weiter füllen und die Spitäler haben bereits jetzt kaum noch Reserven.
In jedem zweiten Intensivbett liegt ein Covid-Patient
Die Aargauer Spitäler können aktuell 49 Intensivbetten betreiben. Davon sind drei nicht zertifiziert. Das Kantonsspital Aarau (KSA) meldete dem Kanton zur Stichzeit 24 betriebene Betten, das Kantonsspital Baden (KSB) 11, die Hirslanden Klinik Aarau 10 und das Spital Muri 4.
Am Montag waren von diesen 49 Intensivbetten 41 belegt, was einer Auslastung von 84 Prozent entspricht. Von den 41 Patientinnen und Patienten auf der Intensivstation wurden 21, also gut die Hälfte, wegen Covid-19 behandelt. Das Gesundheitsdepartement legt auf Anfrage die Auslastung der Intensivstationen nicht nach Spital offen. Sprecher Michel Hassler hält aber fest, der Anteil Covid-19-Patienten an den Intensivpatienten sei zurzeit bei allen Spitälern «in etwa gleich und liegt zwischen 47 bis 56 Prozent».
Das Kantonsspital Baden ist «rappelvoll»
Das KSB hat während der ersten Welle im Frühling 2020 ein dreistufiges Eskalationsmodell für die Intensivmedizin ausgearbeitet. «Dieses mussten wir in diesem Herbst bisher zum Glück noch nicht aktivieren», sagt Sprecher Omar Gisler. «Wir hoffen, dass wir diesen Zustand halten und die kommenden Tage und Wochen weiterhin im Normalbetrieb bewältigen können.» Die Situation sei derzeit allerdings angespannt. «Die Covid-Fallzahlen steigen und das KSB ist rappelvoll», sagt Gisler. «Das sind wenig verheissungsvolle Aussichten.»
Aus dem Westen des Kantons klingt es dramatischer. Sergio Baumann, Interims-CEO des KSA, sagte letzte Woche, die Lage sei so angespannt wie noch nie. Das Personal sei am Anschlag. 20 Pflegefachkräfte hätten in den letzten Wochen – hauptsächlich wegen Erschöpfung und Überlastung – ihre Tätigkeit aufgegeben. Chef-Infektiologe Christoph Fux warnte, man steuere auf die Katastrophe zu und komme diesmal nicht mit einem blauen Auge davon.
Die Suche nach einem freien Intensivbett kann Stunden dauern
Auch Philipp Lenz, Mediensprecher der Hirslanden Klinik Aarau, teilt auf Anfrage mit, die Intensivstation sei voll. «In den zehn Intensivbetten werden im Moment fünf Covid- und fünf Nicht-Covid-Patienten behandelt.» Auch die anderen Spitäler im Aargau seien voll oder annähernd voll belegt. Es könne bis zu mehreren Stunden dauern, um für einen Patienten oder eine Patientin ein freies Intensivbett in einem anderen Spital zu finden.
Weil die eigene und die umliegenden Intensivstationen voll belegt waren, musste die Hirslanden Klinik Aarau letzte Woche bereits triagieren. Ein Krebspatient wurde mit seinem Einverständnis nicht auf die Intensivstation aufgenommen. Das berichtete der «Sonntagsblick». «Wenn triagiert werden muss, kann dies für die betroffenen Patientinnen und Patienten mit Abstrichen verbunden sein», sagt Lenz.
Überlebensprognose ist das erste und wichtigste Kriterium
Triage-Entscheide fällt nicht eine Person alleine. Sie würden immer durch ein interdisziplinäres Team gefällt, so Lenz weiter. Hirslanden richte sich dabei nach den Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) und der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin.
Demnach ist das erste und wichtigste Entscheidungskriterium die kurzfristige Überlebensprognose eines Patienten oder einer Patientin. Zusätzlich muss der mit der Behandlung verbundene Aufwand berücksichtigt werden. Bei gleicher Überlebensprognose haben Behandlungen Vorrang, die schon nach kurzer Zeit den gewünschten Erfolg erwarten lassen.
Therapie wird regelmässig geprüft und neu beurteilt
Coronapatienten liegen im Schnitt mehrere Wochen auf der Intensivstation liegen. Werden sie also wegen des überdurchschnittlich hohen Behandlungsaufwands eher nicht berücksichtigt, wenn die Intensivbetten knapp werden?
Die SAMW hält dazu fest, dass «insbesondere jüngere, zuvor gesunde Covid-Patienten auch bei schwerstem Krankheitsbild oft eine hohe Überlebenswahrscheinlichkeit haben». Zu Beginn sei noch nicht feststellbar, wer eine sehr langwierige Behandlung brauche. Deshalb werde die Therapie vollumfänglich gestartet, in regelmässigen Abständen geprüft und neu beurteilt. Zeichne sich eine «sehr komplexe, langwierige Therapie» ab und seien die Ressourcen knapp, müsse «im ungünstigsten Fall eine Umstellung auf eine palliative Behandlung erfolgen, die ausserhalb der Intensivstation weitergeführt wird».
Regierungsrat orientiert sich an Eskalationsstufenmodell
Um die Spitäler vor dem Kollaps zu bewahren, könnten auch die Coronamassnahmen weiter verschärft werden. In Österreich nehmen die Ansteckungszahlen ab, seit sich das Land im Lockdown befindet. Infektiologe Christoph Fux schlägt für Restaurants, Clubs oder anderen Veranstaltungen 2G und Maskenpflicht vor. Ausserdem würde er eine Homeoffice-Pflicht für Personen begrüssen, die weder genesen noch geimpft sind. Nationalrätin Ruth Humbel fordert eine Impfpflicht für alle über 65-Jährigen.
Der Regierungsrat hat Mitte August eine Eventualplanung mit drei Eskalationsstufen definiert. In der Praxis zeigt sich, dass wohl kaum je alle Kriterien erfüllt sein werden beziehungsweise es zu spät sein wird, wenn erst reagiert wird, wenn bereits alle Zusatzbetten auf der Intensivstation belegt und Notfalloperationen gefährdet sind (Eskalationsstufe 3).
Gleicht man die aktuellen Werte mit den Kriterien im Modell ab, ist bereits heute eines von vier Kriterien der zweiten Eskalationsstufe erreicht. Das Kriterium nämlich, dass mehr als 50 Prozent der Intensivbetten mit Covid-19-Patienten belegt sind. Der R-Wert beispielsweise liegt aber noch deutlich unter 1,5 und die Intensivstationen sind noch nicht zu mehr als 95 Prozent belegt.
Trotzdem werden einige Massnahmen, die der Regierungsrat in seinem Eskalationsstufenmodell vorschlägt, heute bereits umgesetzt. Seit Samstag müssen sich Mitarbeitende im Gesundheitswesen mit Patientenkontakt, die weder geimpft noch genesen sind einmal pro Woche testen lassen. Auch eine Zertifikatspflicht für Bars und Clubs, welche erst ab der zweiten Eskalationsstufe vorgesehen wäre, gilt im Aargau und schweizweit schon viel länger.