Nationalratspräsidentin Irène Kälin verteidigt die Lugano-Konferenz: «Den Wiederaufbau der Ukraine erst nach dem Krieg zu planen, ist falsch»
In Lugano haben sich Parlamentarier aus der Ukraine mit Schweizer Amtskollegen getroffen. Was hat diese Zusammenkunft gebracht?
Irène Kälin: Es ging um die Rolle der Parlamente beim Prozess des Wiederaufbaus in der Ukraine. Ein wichtiges Thema war die Korruption, welche die Ukraine eindämmen muss. Dezentrale Strukturen sind hilfreich im Kampf gegen die Korruption – hier können wir den Ukrainern mit Rat zur Seite stehen. Wir haben mit den Parlamentariern auch darüber gesprochen, wie die Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheiden teilhaben können. Es gibt aber auch Gebiete, in denen wir von ihnen lernen können.
Zum Beispiel?
In der Digitalisierung sind sie uns ziemlich weit voraus. Die Ukrainer haben zum Beispiel eine App entwickelt, bei bei der sie alle ihre Ausweise und die staatlichen Identifikationsnummern hinterlegt haben. Wir können gegenseitig voneinander lernen.
Ist es nicht seltsam, eine Konferenz über den Wiederaufbau der Ukraine abzuhalten, bevor der Krieg beendet ist?
Das finde ich überhaupt nicht. Die ukrainischen Parlamentarier haben uns über die Millionen von Vertriebenen innerhalb ihres Landes ins Bild gesetzt: Für diese Menschen braucht es neue Infrastruktur, neue Schulen zum Beispiel, und zwar schnell. Diese Projekte kann man jetzt angehen. Und erst am Ende des Krieges mit der Planung des Wiederaufbaus zu beginnen, ist falsch. Das ist zu spät. Natürlich kann die Planung jetzt nicht abschliessend sein – es wird aber weitere Konferenzen zum Thema geben. Aussenministerin Elizabeth Truss hat angekündigt, dass Grossbritannien die nächste Veranstaltung dieser Art organisiert.
Die Delegationen der einzelnen Länder sind nicht so prominent besetzt, wie sich das die Veranstalter der Konferenz in Lugano anfänglich erhofft hatten.
Ich kann nur für die Parlamente sprechen: Die Delegationen der Ukraine und der Schweiz kann man als hochkarätig bezeichnen. Wichtig ist doch, dass viele Länder und wichtige Organisationen an dieser Konferenz vertreten sind. Die Teilnehmer werden die Erkenntnisse der Veranstaltung in ihren jeweiligen Ländern rapportieren – und so wird die Planung des ukrainischen Wiederaufbaus vorangetrieben. Das ist ein Prozess, es geht nicht von heute auf morgen.
Sie reisten Ende April nach Kiew. Stehen Sie noch in Kontakt mit den Amtsträgern, die Sie damals besuchten?
Sporadisch, ja. Es sind Freundschaften entstanden. Aber die Menschen in der Ukraine haben mit grossen Problemen zu kämpfen, da will ich mich nicht aufdrängen. Leider gibt die militärische Lage, das Vorrücken der russischen Invasoren, Anlass zu Sorge.
An der Konferenz fällt auf, wie optimistisch sich die Ukrainer geben – obwohl die Russen vorankommen auf ihrem Vernichtungszug.
Diesen Eindruck teile ich. Manchmal erstaunt es mich, wie positiv die Ukrainer gestimmt sind, trotz den Kriegsverheerungen in ihrer Heimat. Sie sind überzeugt, dass sie den Krieg gewinnen – und sie wollen eine bessere Ukraine aufbauen, demokratischer, mit modernen Strukturen. Die Unverdrossenheit ist bewundernswert. Und mir scheint, dass der neue Status als EU-Beitrittskandidat eine zusätzliche Motivation für die Ukrainerinnen und Ukrainer ist.